Dass die unfreiwillige und vorzeitige Heimreise auch ihr Gutes hatte, wurde den beiden erst nach dem Abpfiff des Finales bewusst. In diesen bitteren Stunden waren sie zu Hause im Kreise der Familie und unter Freunden besser aufgehoben. Fußball-Deutschland stand unter Schock. Der „kicker“ wollte sogar 1.000 Mark Belohnung für ein Foto bezahlen, auf dem klar zu sehen war, dass der Ball die Linie überschritten hatte: „Um den Verdacht einer Montage auszuschließen, muß mit der Aufnahme auch der Negativfilm eingereicht werden. Falls mehrere Fotos eingehen, entscheidet der Zeitpunkt der Absendung (Poststempel). Es geht uns nur um die Wahrheit, gleichgültig wie sie lautet. Denn auch eine bittere Wahrheit wäre immer noch besser als das nagende Gefühl, Unrecht erlitten zu haben. Tausend Mark Belohnung – wir würden sie gerne bezahlen.“
Fünf Jahre später, 1971, sollte Rainer Zobel in seinem ersten großen Finale ein Schuss gelingen, der den von Sir Geoffrey Hurst zum berühmten „Wembley-Tor“ noch in den Schatten stellte. Er brachte es damit sogar bis in die Wochenschau der Kinos. Nach mehreren Zeitlupen bemerkte der Kommentator in Anspielung auf das WM-Finale von 1966: „Diesmal war er wirklich drin.“
Dem wachen und unbestechlichen Auge des DFB-Trainers war nichts entgangen: „Bei einigen wurde im Laufe des Lehrgangs das Nachlassen der Kondition sehr deutlich“, zog Udo Lattek keineswegs begeistert Bilanz und gab dem Nachwuchs gymnastische und balltechnische Hausaufgaben mit auf den Heimweg. Ein paar Dauerläufe würden auch nicht schaden. Seine Kontrollmöglichkeiten waren begrenzt: Lattek sah die Spieler nur alle zwei, drei Monate bei den Lehrgängen, Kontakt zu den Vereinstrainern gab es kaum. Dem Coach der deutschen U19 und der Amateurnationalmannschaft blieb nichts anderes übrig, als an die Eigeninitiative seiner Leute zu appellieren: „Eine Viertelstunde Zeit vor dem Büro morgens hat jedermann. Wälder und Wiesen gibt es auch überall.“
Auch Rainer Zobel durfte sich angesprochen fühlen. Er hatte im März 1967 eine Einladung zu einem Sichtungslehrgang in die Sportschule Duisburg-Wedau erhalten, ein Lehrgang, der sich zu großen Teilen aus Jugendnationalspielern zusammensetzte. Einen Monat vorher hatte er beim 0:1 gegen England sein Debüt gegeben. Lattek hielt eine Menge von Zobel und traute ihm den Sprung in die Nationalmannschaft der Amateure zu. Mit der ging es um nicht weniger als die Qualifikation für die Olympischen Spiele nächstes Jahr in Mexiko. Obwohl Lattek ihn für hochveranlagt hielt, richtig schlau wurde er aus dem 18-jährigen Talent vom SC Uelzen nicht: „Immer, wenn Du zu Lehrgängen kommst, habe ich den Eindruck, Du hast alles verlernt. Und nach ein paar Tagen bist Du wieder ganz der Alte.“
Zobel ahnte, worauf sein Trainer hinauswollte, behielt die ganze Wahrheit aber erst einmal für sich. Ein guter Teil dieser Wahrheit hing mit seinem Lebenswandel zusammen. Zwar hatte die Begeisterung für den Fußball kaum nachgelassen, andere Leidenschaften ließen sich aber nicht dauerhaft unterdrücken. Die für Musik zum Beispiel. An den Wochenenden machte er sich mit seinen Freunden oft auf den Weg nach Hamburg und tauchte in eine Clubszene ein, die fast noch aufregender war als die des „Swinging London“. Oft quetschten sie sich mit sechs Leuten in seinen klapprigen VW Käfer und tuckerten die knapp einhundert Kilometer über die Autobahn bis nach Hamburg. Manchmal nahmen sie auch die Bahn. Die bot zwar mehr Platz, hatte aber den Nachteil, dass sie frühmorgens völlig abgekämpft am Hauptbahnhof hingen und darauf warteten, dass endlich der erste Zug nach Uelzen ablegte. Kleine Unannehmlichkeiten, die die Freunde aber gerne in Kauf nahmen, denn die Ausflüge in die Millionenstadt lohnten sich immer.
Erste Adresse unter den zahlreichen Musikklubs war der „Starclub“ auf der „Großen Freiheit“. Wer hier auftrat, gehörte bereits zu den Großen oder war an den Türstehern der „Hall of Fame“ schon so gut wie vorbei: Chuck Berry, Little Richard, Jimmy Hendrix, Ray Charles oder Eric Clapton. Mit Ausnahme der Rolling Stones spielte hier alles, was in den 60er Jahren Rang und Namen hatte. Die Beatles waren in ihrer Anfangszeit in den Clubs an der Reeperbahn Stammgäste. John Lennon sagte, er sei musikalisch in Hamburg aufgewachsen. Zobel haderte lange mit sich, dass er sie verpasste. Als Paul, John, George und Ringo im „Kaiserkeller“ spielten, hing er mit seinen Freunden wie gewöhnlich nebenan im „Starclub“ ab. Das Angebot war einfach zu groß. Gehe nach Hamburg, und du wirst berühmt, hieß es unter Rockmusikern.
An den Wochenenden, die er in Uelzen verbrachte, landete Zobel zuverlässig in der „Tenne“. Eine Kellerkneipe ohne Fenster, eng, düster und stickig, aber was machte das schon, hier ging man nicht hin, um frische Luft zu schnappen. Die „Tenne“ war erste Anlaufstation der Jugend von Uelzen und Umgebung, umso erstaunter war Zobel, als er in diesem verqualmten Schuppen auf seinen Trainer traf. Das war doch mal ein Überraschungsgast! Richard Hornburg trainierte die erste Herrenmannschaft, für die Rainer bereits in der Verbandsliga Ost auf dem Platz stand, obwohl er noch A-Jugendlicher war.
„Was machst Du denn hier?“, wollte Hornburg wissen. Es war bereits weit nach Mitternacht und ganz offensichtlich, dass er sich eine etwas seriösere Vorbereitung auf das bevorstehende Spiel gewünscht hätte: „Du gehst jetzt sofort nach Hause!“ Zobel mochte seinen Trainer nicht besonders. Hornburg war ein vom Ehrgeiz getriebener Schleifer und Choleriker, ihm machte es nichts aus, Spieler beim ersten Fehler vom Platz zu holen, selbst wenn er sie kurz zuvor eingewechselt hatte. Beim Lokalrivalen Teutonia durfte er sich nicht mehr blicken lassen. Nachdem er wiederholt und gegen alle Absprachen Personal abgeworben hatte, wurde gegen ihn ein Platzverbot verhängt. Sein ruppiger Ton ging Rainer gegen den Strich, beim Fußball und auch hier, in seinem Stammlokal: „Und was ist, wenn ich nicht gehe?“ „Dann stelle ich Dich morgen nicht auf.“ Zobel entschied sich fürs Bleiben. „Wenn Sie mich deswegen aus der Mannschaft werfen, spiele ich eben überhaupt nicht mehr.“ Damit war das kurze Gespräch beendet und der Jugend-Nationalspieler zog fortan mit der Zweiten über die Dörfer.
Beim DFB ahnte niemand etwas von dieser Entwicklung. Wer in den Auswahlmannschaften spielte, stand nicht unter Dauerbeobachtung, es war auch nicht ungewöhnlich, dass die Nominierten aus der Provinz kamen. Spieler und Trainer trafen sich auf den einwöchigen Lehrgängen, nur die waren für die Zusammenstellung der Mannschaft entscheidend. Wer keine Einladung erhielt, konnte zu Hause so gut sein wie er wollte – er hatte kaum Chancen, sich zu empfehlen. Eigentlich spielte Zobel unterm Radar, sonst wäre er beim DFB die Treppe heruntergeflogen. Ein künftiger Amateurnationalspieler, der sein Land bei den Sommerspielen in Mexiko vertreten sollte und in der Kreisliga kickte? Udo Lattek hegte viel Sympathie für den olympischen Amateurgedanken, aber damit durfte er seinem Trainer nicht kommen.
Allzu lange ließ sich der sportliche Abstieg jedoch nicht mehr verheimlichen, Zobel wusste das. Genauso war ihm klar, dass er dann aus den DFB-Auswahlmannschaften fliegen würde. Schade, aber nicht zu ändern. Er hatte nicht vor, sich bei seinem Trainer zu entschuldigen, um wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Ein großes Ding schwirrte ihm allerdings noch durch den Kopf. Auf dem Weg zu den Olympischen Spielen hatte der Deutsche Fußball-Bund eine drei Wochen lange Asientour geplant, und auf die war Rainer scharf. Burma, Thailand, Malaysia, Hongkong, die Philippinen und Japan sollten die Stationen sein. Das klang nicht nur nach großem Abenteuer, das war bestimmt auch eines und die Gelegenheit, diese Länder einmal zu besuchen, würde wahrscheinlich nie wieder kommen. Wenn er bei dieser Reise mit an Bord sein würde, hätte ihm der Fußball mehr gegeben als er je zu hoffen wagte. Dafür war er bereit, sich noch einmal so richtig ins Zeug zu legen.
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