Sieben Kilometer entfernt, in Wrestedt, lebten seine Großeltern Elsbeth und Friedrich Retzlaff. Rainer besuchte sie häufig mit dem Fahrrad, er war so etwas wie der Lieblingsenkel. Sein Opa war Schumacher, hatte sein Handwerk in der pommerschen Stadt Naugard erlernt und erzählte mit großem Stolz, dass Otto von Bismarck in seiner Werkstatt einmal Stiefel in Auftrag geben ließ. Bismarck hatte dort als junger Mann ein Rittergut bewirtschaftet, war Kreisdeputierter der Stadt und kam später immer wieder dorthin zurück. Aber auch für weniger große Füße nahm Friedrich Retzlaff Maß und fertigte seinem Enkelsohn Schuhe, noch bevor der das Laufen gelernt hatte. Den Leisten malte Rainer als Schulkind mit Silberfarbe an und hütete ihn wie einen Schatz, dessen Wert nur er ermessen konnte: seine ersten Schritte ins Leben!
Er verbrachte viel Zeit in der kleinen Werkstatt und hatte einen Stammplatz auf dem Schemel seines Onkels, der seinen Beruf wegen einer schweren Kriegsverletzung nicht mehr ausüben konnte. Rainer schaute dem Großvater aufmerksam bei der Arbeit zu und freute sich, wenn er hin und wieder ein paar Aufgaben übernehmen durfte, Holznägel in die Sohlen schlagen etwa. Friedrich Retzlaff reparierte mittlerweile nur noch. Dass sich jemand Schuhe nach Maß anfertigen ließ, war die ganz große Ausnahme. Viel zu teuer, dafür hatten die Leute hier kein Geld.
Mit seiner Oma fuhr Rainer häufig mit dem Bus nach Uelzen, um Schuhmacherbedarf zu kaufen, vor allem Lederrollen, aus denen dann die Sohlen geschnitten wurden. Irgendwann erzählte er ihr von seinem Plan. Da er an den Wochenenden ohnehin fast immer bei seinen Großeltern in Wrestedt war, könnte er dort doch auch im Verein spielen. Seine Eltern würden bestimmt nichts merken, die kamen nur selten aus Uelzen heraus. Der TSV hatte zwar keine Mannschaft in seiner Altersklasse, aber mit deutlich Älteren zu kicken und sich vor allem gegen sie durchzusetzen, war Rainer inzwischen gewohnt. Wenn auf der Straße die Mannschaften gewählt wurden, zählte er zu den begehrtesten Spielern. Andere wurden gleich weggeschickt, aber um ihn stritten sich die Großen. Sie wollten ihn unbedingt in ihrer Mannschaft haben und gaben Rainer damit das Gefühl, dass er etwas konnte und richtig gut war.
Er hatte sogar schon ein Punktspiel für den TSV Wrestedt bestritten, unter falschem Namen. Was hatte er gezittert, als der Schiedsrichter bei der Passkontrolle den Namen jedes einzelnen Spielers vorlas. Das Foto war nicht das Problem, fast jeder trug die Haare kurz und zu einem Seitenscheitel gekämmt. Aber Rainer musste sich ein fremdes Geburtsdatum merken, wenn er das bei der Kontrolle nicht draufhatte, würde alles auffliegen. Mit jedem Nachnamen, den der Schiedsrichter militärisch knapp aufrief, stieg seine Nervosität. Dann war er an der Reihe. Ohne Blickkontakt zum Unparteiischen aufzunehmen, schossen ein paar Zahlen aus ihm heraus. Waren es die richtigen? Nach einer kurzen Pause ging es weiter, der Nächste. Geschafft, aber ihm war klar, dass das keine Dauerlösung sein konnte. Und genau deshalb brauchte er seine Oma. Sie musste den Aufnahmeantrag unterschreiben, nur wenn sie einverstanden war, konnte er unter seinem richtigen Namen für den TSV Wrestedt spielen. Und sie durfte die Sache nicht an die große Glocke hängen oder am besten ganz für sich behalten.
Auf Elsbeth Retzlaff war Verlass! Um bei seinen Eltern nicht mehr Verdacht als unbedingt nötig zu erregen, fuhr Rainer nur selten zum Training, an den Wochenenden jedoch erschien er nach sieben Kilometern auf dem Rad immer gut aufgewärmt zum Spiel. Sein größter Wunsch war damit in Erfüllung gegangen, er gehörte endlich zu einer richtigen Mannschaft und trug stolz die Farben seines Vereins: gelbes Trikot, das man am Kragen zuschnüren konnte, schwarze Hose und gelbe Stutzen. Mit Fußballschuhen wäre sein Glück vollkommen gewesen, aber bis auf Weiteres musste der Neuzugang in Turnschuhen der Marke „Romika“ kicken, mit ganz kleinen Noppen unter der Sohle. Dass er außergewöhnlich talentiert war, ließ sich aber auch in diesen Tretern nicht verheimlichen.
Ein Jahr lang ahnten seine Eltern nichts, dann flog die Geschichte auf: Rainer hatte mit der Wrestedter C-Jugend die Kreismeisterschaft gewonnen! Nach der Deutschen Meisterschaft von Hannover 96 und dem WM-Finale von Bern im Sommer 54 die nächste Sensation in seinem noch jungen Fußballerleben, denn die Nachbarvereine aus Uelzen hatten die besseren und vor allem deutlich größeren Jugendabteilungen. Die „Allgemeine Zeitung“ widmete diesem Ereignis einen großen Artikel, garniert mit einem Foto der stolzen Kreismeister.
Zum Glück war es seine Mutter, die zuerst von den Alleingängen ihres Sohnes las. Die Zeitung wurde in der Regel erst am frühen Nachmittag zugestellt, wenn der Vater nach seiner Mittagspause schon wieder im Amt war. So blieb Ilse Zobel noch ein bisschen Zeit für strategische Überlegungen, sie musste ihrem Mann die neuesten Nachrichten so schonend wie möglich beibringen. Einmal in Fahrt war es keine ganz leichte Aufgabe, den Gatten wieder zu beruhigen. Der Teppichklopfer hing immer in Reichweite und wurde bei grundsätzlichen Erziehungsfragen auch eingesetzt. Rainer wusste, wie sich das anfühlte. Zwar war es bei ihm zu Hause nicht so schlimm wie bei seinem Cousin, der noch mit dem Lederriemen verdroschen wurde, aber auch Teppichklopfer hinterließen ihre Spuren und so hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, schnell in seine Lederhose zu schlüpfen, wenn Sanktionen drohten. Jetzt war wieder so ein Moment, um die Kleidung zu wechseln.
Doch das diplomatische Geschick der Mutter setzte sich durch. Der Vulkan brodelte, aber er brach nicht aus. Ihrem Mann die eigene Sicht der Dinge so beizubringen, dass er glaubte, selbst darauf gekommen zu sein – darin war seine Mutter unschlagbar. Nachdem Otto Zobel die vor allem für seinen Seelenhaushalt unverzichtbare Standpauke beendet hatte, machte er seinem überraschten Sohn ein verlockendes Angebot: „Junge, wenn Du schon so gut bist, dann kannst Du auch gleich in Uelzen spielen.“
Kurz darauf wechselte er erst zu Teutonia und später, als er auf das Gymnasium der Herzog-Ernst-Schule kam, zum SC 09. Dort kickten die meisten seiner Klassenkameraden. Ein weiterer Vorteil: Anders als Teutonia galt der Sportclub Uelzen von 1909 als Verein der gehobenen Mittelschicht. Rainer machte sich nichts daraus, aber seinen in Statusfragen sensiblen Vater konnte er damit besänftigen. Wenn schon Fußball, dann wenigstens im Verein für die besseren Leute.
„Tolopen Pack!“ Übertriebene Freundlichkeit oder gar Herzlichkeit schlug den Millionen Pommern, Schlesiern oder Ostpreußen, die nach Ende des 2. Weltkriegs im noch verbliebenen Deutschland ankamen, nur selten entgegen. Auch nicht in Niedersachsen, und schon gar nicht auf den Dörfern. Die Stimmung war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, frostig bis feindselig. Jeder war sich selbst am nächsten und sah zu, irgendwie durchzukommen. Das war schwer genug. Und das wenige, was man besaß, sollte man nun auch noch teilen? Mit Fremden? „Tolopen Volk“, zugelaufenes Volk, gehörte noch zu den freundlicheren plattdeutschen Umschreibungen für Flüchtlinge und Vertriebene, gängiger war die Rede vom „tolopen Pack“. Auch „Polacken“, „Zigeuner“ oder „Rucksackdeutsche“ zählten zu oft gehörten Schmähungen.
Rainer Zobels Familie hatte die pommersche Heimat im Februar 1945 verlassen. Bis dahin war in Naugard kaum etwas vom Krieg zu spüren gewesen. Als die Nachrichten von der bevorstehenden Einnahme durch die Rote Armee die Runde machten, leerte sich die Stadt aber schlagartig. Am 4. März begannen die Kämpfe um Naugard, bei denen das Stadtzentrum nahezu vollständig zerstört wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Zobels und Retzlaffs bereits auf der Flucht: die Mutter, die ältere Schwester Karla, Onkel, Tante und die Großeltern. Mit seinem Vater hatte es das Schicksal etwas besser gemeint, er befand sich in französischer Gefangenschaft und hatte den Krieg vergleichsweise glimpflich überstanden. Nach einem Kniedurchschuss kam er erst ins Lazarett, dann direkt in die Gefangenschaft und wurde 1947 entlassen. Gut ein Jahr vor Rainers Geburt.
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