Jensen gehörte zu den wenigen halbwegs nüchternen Bayernspielern auf dem Platz, als Schiedsrichter Biwersi die Partie um 15 Uhr 30 anpfiff. Das 1:0 durch Heynckes konnte er trotzdem nicht verhindern. Zobel hatte auf der Bank kaum etwas mitbekommen, immer wieder nickte er ein. Als er eine Viertelstunde nach dem Führungstreffer zum wiederholten Mal an diesem Tag rüde geweckt wurde, stand es bereits 4:0: „Los, Du musst jetzt spielen. Die anderen können nicht mehr.“ Auch wenn ihm nicht danach zumute war, stellte er sich in den Dienst der Mannschaft, ohne allerdings das Schatten spendende Areal unterhalb der Haupttribüne häufiger zu verlassen als unbedingt nötig. Viggo Jensen mühte sich redlich, Heynckes am Toreschießen zu hindern, aber ein weiterer Treffer gelang dem Gladbacher noch. Damit kam er auf 30, wie Gerd Müller. Das Rennen um die Torjägerkanone endete unentschieden. Für seinen selbstlosen Einsatz schenkte Zobel Jensen das Trikot aus dem Endspiel.
Er selbst hatte seine letzten Reserven für den großen Empfang am Abend in München erfolgreich geschont. Sie waren mit einiger Verspätung am Flughafen in Riem eingetroffen, stiegen dort in offene Cabrios und rollten langsam Richtung Innenstadt. Zobel saß mit den beiden Dänen in einem Wagen, Viggo Jensen und Johnny Hansen, seinem besten Freund in der Mannschaft. Je weiter sie sich vom Flughafen entfernten, desto größer wurde die Menschenmenge, die ihnen zujubelte. Auf der Prinzregentenstraße kamen sie nur noch im Schritttempo voran. Von überall her strömten die Leute und gratulierten, die strahlenden Sieger von Brüssel hielten an nahezu jedem Lokal, Kellner brachten auf Tabletts Getränke heraus, damit die Spieler mit ihren Fans anstoßen konnten.
Jetzt war sich Zobel sicher, die schönsten Momente seiner Karriere zu erleben. Besser als an diesem Abend würde es nie mehr werden. Irgendwann erreichten sie das Rathaus und stiegen auf eine provisorisch errichtete Bühne. Ein paar kurze Reden, immer wieder unterbrochen vom Jubel dieser riesigen Menschenmenge, dann zog sich die Mannschaft zurück zum geschlossenen Teil der Feier. Als der zu Ende war, wollte Zobel nur noch schlafen, schlafen, schlafen. Und wehe, irgendjemand würde ihn wecken.
Seine Eltern durften nichts davon wissen. Vor allem sein Vater nicht. Fußball? Ihm reichte es, wenn sein Sohn auf der Straße oder dem Bolzplatz kickte, das konnte er schlecht verbieten. Aber im Verein? Kam überhaupt nicht in Frage. „Arbeitersport“, pflegte er die Nase zu rümpfen, Fußball passte nicht zu seinen beruflichen Ambitionen. Otto Zobel war zwar nur einfacher Angestellter im Arbeitsamt Uelzen, einer Kleinstadt in der Lüneburger Heide, aber er war ehrgeizig und strebte die Beamtenlaufbahn an. Keine Kleinigkeit, denn er hatte nur einen Volksschulabschluss. Und ein künftiger Staatsdiener mit einem Sohn, der im Verein Fußball spielt? Unvorstellbar! Sollten andere ihre Kinder dorthin schicken, er nicht. Ende der Durchsage.
Sich gegen seinen Vater durchzusetzen war aussichtslos. Rainer verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte man nur so stur, so hartköpfig sein, fragte sich der neun Jahre alte Junge. Und vor allem: Wie konnte man nur so viel Quatsch erzählen? Wieso Arbeitersport? Was hatte denn Fußball mit Arbeit zu tun? Das war doch pure Freude, für die er gerne jede freie Minute opferte. Und noch etwas verwirrte ihn: sein Vater hatte doch eigentlich gar nichts gegen diesen Sport, ganz im Gegenteil. Er war es doch gewesen, der ihn mit dem Fußball erst in Berührung gebracht hatte. Dem großen Fußball sogar. 1954 war das, Hannover 96 traf im Finale um die Deutsche Meisterschaft auf den 1. FC Kaiserslautern. Und der gerade einmal fünf Jahre alte Rainer durfte mit! Nicht ins Hamburger Volksparkstadion, wo sich beide Mannschaften gegenüberstanden. Für einen solchen Ausflug reichten weder Geld noch Begeisterung des Vaters.
Stattdessen ging es an diesem Nachmittag zu „Radio Pommerien“, dem führenden Elektrofachgeschäft vor Ort, wo kurz zuvor das Fernsehzeitalter eingeläutet worden war: „Zum ersten Mal erlebte man nun auch in Uelzen das Wunder des Fernsehens. Man war zunächst ein wenig skeptisch, als die Firma Radio Pommerien zum Fernseh-Empfang im kleinen Kreise einlud“, notierte die „Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide“. Doch die anfängliche Skepsis verflog schnell. Eines dieser klobigen Geräte hatte Pommerien bei sich ins Schaufenster gestellt, seitdem bildeten sich in der belebten Lüneburger Straße mal kleinere, mal größere Menschenansammlungen – je nachdem, wie aufregend die Nachrichtenlage gerade war.
Zobels Eltern besaßen natürlich keinen Fernseher. Aber sein Vater kannte den Besitzer ganz gut und der hatte ihn mit ein paar anderen Erwachsenen zu sich nach Hause eingeladen. Nur Männer, das verstand sich von selbst. Rainer hatte jedoch so lange gebettelt, bis es sein Vater weniger anstrengend fand, den Sohn einfach mitzunehmen. Neben einem etwa gleichaltrigen Jungen hockte er davor dem riesigen Apparat und sah mit immer größer werdenden Augen, wie die 96er den eigentlich als unbezwingbar geltenden Favoriten aus Kaiserslautern auseinandernahmen: 5:1 hieß es nach 90 Minuten, von einer Sensation, wie sie der deutsche Fußball bis dahin noch nicht erlebt hatte, sprach man in den folgenden Tagen. Mit jedem Tor war die Stimmung in der guten Stube des Elektrowarenhändlers gestiegen, die Männer kriegten sich vor lauter Begeisterung gar nicht mehr ein – der deutsche Meister kam tatsächlich aus Niedersachsen und hieß Hannover 96! Wer nach einem solchen Spiel dem Fußball nicht verfallen war, dem war auch nicht mehr zu helfen.
Ein paar Jahre lag das nun schon zurück und fast genauso lang träumte Rainer davon, endlich selbst in einem Verein zu spielen. In Uelzen standen ihm gleich zwei der gehobenen Güteklasse zur Auswahl, der SC von 1909 und Teutonia. Beide spielten in den 50ern in der höchsten niedersächsischen Amateurliga. Teutonia regte seine Phantasie besonders an, um diesen Verein rankten sich einige Geschichten. Zwei Jahre nach Kriegsende, Rainer war noch gar nicht geboren, trafen die Teutonen sogar auf Schalke 04: Fast 10.000 Zuschauer wollten die Schalker Vereinslegenden Fritz Szepan und Ernst Kuzorra sehen. Das Stadion am Musterplatz war für diesen Gegner viel zu klein, die Leute kletterten auf die Bäume oder drängten sich an den Fenstern der umliegenden Häuser. „Der FC Schalke 04 freut sich, endlich auch ein Gastspiel in Uelzen austragen zu können, und den vielen nach Klassefußball hungernden und sportbegeisterten Menschen der Lüneburger Heide den Sonntag nach saurer Wochenarbeit zu einem Fußballfest zu gestalten“, hieß es in einem Grußwort der berühmten Gäste. Sie gewannen 6:0 und wurden für ihren Auftritt in der niedersächsischen Provinz mit Speck, Schinken und Rübenschnaps entlohnt.
Es kamen weitere große Mannschaften, der SV Sodingen aus der Oberliga West etwa, deren Torwart Günter Sawitzki im berühmten Notizbuch von Bundestrainer Sepp Herberger stand. Wieder strömten mehr als 6.000 Zuschauer zum Musterplatz, diesmal stand Rainer mittendrin, neben seinem Vater! Kurz darauf ging es für Teutonia gegen den VfB Oldenburg am Hamburger Rothenbaum sogar um den Aufstieg in die Oberliga Nord. Also dorthin, wo auch der HSV und Hannover 96 spielten. Rainer hatte dieses Spiel in der Küche am Radio verfolgt und es vor Spannung kaum noch ausgehalten. Teutonia lag schon 0:2 hinten, rettete sich in die Verlängerung, um doch noch mit 2:3 zu verlieren. 15.000 Zuschauer sahen dieses dramatische Spiel, die meisten von ihnen waren aus Uelzen gekommen.
Der Platz von Teutonia lag nicht einmal 500 Meter von seinem Elternhaus entfernt. Alles hätte so einfach sein können. War es aber nicht. Und jetzt? Klein beizugeben kam für Rainer nicht in Frage. Er wollte nicht als Straßenfußballer enden, sondern in einem Verein am geordneten Spielbetrieb teilnehmen. Wenn nicht in Uelzen, dann eben woanders. Einen Plan hatte er auch schon.
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