Anders ist es bei Menschen im Erwachsenenalter. Hier wird von der Polizei nicht sofort eine Ablaufkette in Gang gesetzt mit dem Ziel, den Verschollenen zu finden. Es ist die Entscheidung eines Erwachsenen, ob er oder sie vielleicht eine Auszeit braucht, für eine Stunde — oder für ein neues Leben. In Deutschland ist es das Recht eines jeden Erwachsenen, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Er braucht diesen Ort auch nicht seinen Angehörigen oder Freunden mitzuteilen. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn die Person nicht im Vollbesitz ihrer geistigen oder körperlichen Kräfte ist. Oder wenn es den Verdacht gibt, derjenige könnte in Lebensgefahr sein, sei es durch einen geplanten Suizid oder weil er beispielsweise Opfer eines Unfalls geworden sein könnte.
Oder einer Straftat.
Einen solchen Hinweis, dass Miroslav P. womöglich Opfer eines Verbrechens geworden ist, bekommt die Polizei lange Zeit nicht. Denn die, die etwas darüber wissen könnten, schweigen. Einzig der vierzehn Jahre alten Tochter des vermissten Mannes gelingt es nicht, vollkommen dicht zu halten. Die Schülerin schreibt zur Zeit des Verschwindens ihres Vaters eine verklausulierte Chat-Nachricht an ihren Freund. Sie gibt ihm dabei zu verstehen, er solle jeweils nur das erste Wort in jedem Satz lesen.
Die Wörter ergeben eine verstörende Nachricht: „Heute bringen wir meinen Vater um.“
Ihr Freund hält das zunächst für einen schlechten Scherz. Wahrscheinlich will er einfach glauben, dass nichts wirklich Schlimmes geschehen sei. Weitere Erzählungen seiner Freundin über einen angeblichen Mord und eine Leiche auf dem Reiterhof behält er ebenfalls zunächst für sich. Er hat Sorge, dass er und seine Familie in Gefahr geraten könnten, wenn er seine Vermutungen der Polizei offenbaren würde.
Doch schließlich, fast zwei Jahre später, erdrückt ihn die Last der dunklen Ahnung, dass ein Mensch gewaltsam zu Tode gekommen ist. Sie wiegt so schwer, dass es den Jugendlichen im Schulunterricht nicht mehr auf seinem Stuhl hält, sondern zur Polizei nach Itzehoe treibt. Der Jugendliche wirkt auf die Ermittler aufgewühlt und ängstlich. Er schildert den Beamten, seine Ex-Freundin habe ihm seinerzeit erzählt, dass ihr Vater von dem neuen Liebhaber ihrer Mutter in eine Falle gelockt und getötet wurde. Der Leichnam sei in der Reithalle des Hofes zu finden. Dort soll der Körper mit Chemikalien überschüttet und verscharrt worden sein.
Im Zusammenhang mit der Aussage des Schülers gewinnt bei weiteren Ermittlungen die Beobachtung eines Mitarbeiters in einem Landhandel besondere Bedeutung. Ihm ist es merkwürdig vorgekommen, dass ein Kunde mehrere Säcke Branntkalk gekauft hat, insgesamt sind das 150 Kilo. Für eine Firma wäre das keine ungewöhnlich hohe Menge, für eine Privatperson schon. Branntkalk wird in der Bauindustrie als Beimischung zu Mörtel und Putzen verwendet. Früher nutzte man ihn zur Desinfektion von Begräbnisstätten. Und: Er hat eine geruchsbindende Wirkung.
Wofür also wurde dieser Branntkalk genutzt? Der Mann, der den erstaunlichen Kauf getätigt hat, ist Yasar S., der neue Bewohner auf dem Reiterhof — jener Mann, der vom Mitarbeiter zum engen Vertrauten der Hausherrin avanciert ist.
Die Angaben der Zeugen sorgen dafür, dass die Ermittler Yasar S. intensiver ins Visier nehmen. Am 5. März 2019 rückt die Polizei schließlich mit großer Besetzung in dem Dithmarscher Ort an. Etwa hundert Beamte sind auf dem Reiterhof im Einsatz, um dem Verdacht eines Mordes durch den 46-Jährigen auf den Grund zu gehen. Die Hamburger Rechtsmedizin unterstützt die Hausdurchsuchung vor Ort, weil die Ermittler davon ausgehen, dass wohl ein Leichnam gefunden wird. Die Ausgrabung des Körpers soll von einer Anthropologin professionell begleitet werden.
Die Polizei durchkämmt den gesamten Hof und setzt dabei unter anderem Metallsuchgeräte und speziell ausgebildete Hunde ein. Schließlich wenden sich die Ermittler gezielt einem Komplex zu, bei dem ein Leichenspürhund anschlägt und den der 17-jährige Zeuge bereits in seiner Aussage genannt hat: die Reithalle. Die Ermittler räumen das Gebäude frei, der Boden wird abgezogen und sauber gefegt. Nachdem die Staubschicht beseitigt ist, fällt etwa in der Mitte ein rechteckiger Abschnitt auf, wo der Boden festgestampft wurde. Der Bereich misst zirka zwei mal einen Meter und setzt sich farblich deutlich von der Umgebung ab.
Ein verborgenes Grab?
Zentimeter für Zentimeter wird der Boden, in dem sich große Mengen Branntkalk befinden, abgetragen. In rund 50 Zentimeter Tiefe stoßen die Ermittler auf eine körperähnliche Struktur, die entfernt an einen menschlichen Rumpf erinnert, ohne Kopf, Arme und Beine. Dieses Gebilde, das von Tampen umschnürt ist, wird immer weiter freigelegt und dann aus der Grube herausgehoben. Die Anthropologin erkennt sofort knöcherne Strukturen, vor allem Wirbel und Gelenke, die am oberen und unteren Ende des Bündels abgrenzbar sind. Dieser Befund deutet stark darauf hin, dass es sich um einen menschlichen Torso handelt. Das Gebilde wird unverzüglich nach Hamburg ins Institut für Rechtsmedizin geschafft.
Die gerichtliche Sektion bestätigt die vorläufige Einschätzung unmittelbar nach der Bergung: Es handelt sich um einen menschlichen Rumpf mit abgetrenntem Kopf, ohne Arme und Beine. Reste eines männlichen Geschlechtsteils sind noch abzugrenzen, der Penis selber fehlt; er ist abgeschnitten worden. Der Torso weist vergleichsweise zarte Schlagadern und knorpelige Rippenansätze am Brustbein auf. Anhand dieser Befunde wird das Alter des Mannes auf ungefähr dreißig bis vierzig Jahre geschätzt, was in etwa zu dem vermissten Miroslav P. passt.
Die Leichenliegezeit wird auf ein bis zwei Jahre taxiert, genauer ist das nicht einzugrenzen. Auch diese Daten würden zu dem Verdacht passen, dass es sich um den verschollenen Familienvater handelt.
Nun geht die Polizei einem weiteren Hinweis nach. Es heißt, der mutmaßliche Täter habe den Toten zunächst zwar als Ganzes in der Reithalle vergraben, ihn dann aber nach mehreren Monaten wieder freigelegt und Kopf, Gliedmaßen und Geschlechtsteil abgetrennt. Für Polizei und Rechtsmedizin stellt sich nun die Frage: Wo sind die noch fehlenden Körperteile?
Auf dem Hof ist alles gründlich abgesucht. Also könnten die Leichenteile ebenfalls eingegraben worden sein — oder in einem Gewässer versenkt. Infrage kommt beispielsweise ein Entwässerungsgraben, der hinter dem Reiterhof entlang verläuft. In Dithmarschen bezeichnet man solche Gräben als Wettern. Polizeitaucher werden eingesetzt. Sie entdecken in dem trüben Wasser der Wettern zunächst fünf Maurer-Kübel aus Plastik mit abgehärtetem Mörtel. Jeweils vier Mann sind vonnöten, um die mehr als hundert Kilogramm schweren Blöcke zu bergen.
So massiv der Mörtel auch ist: Die Röntgenstrahlen einer speziellen mobilen Anlage des Hamburger Zolls durchdringen auch die härteste Masse und verraten Verborgenes: Es sind tatsächlich darin einbetonierte Leichenteile zu erkennen.
Die Einsatzkräfte beschließen nach Rücksprache mit der Rechtsmedizin, die Betonblöcke mit schwerem Gerät aufzubrechen. Arme und Beine kommen in mehreren Teilstücken zum Vorschein, aber noch fehlt ein Oberschenkel. Vom Kopf gibt es ebenfalls keine Spur. Ihn zu finden, ist besonders wichtig. Oft lässt sich bei einer rechtsmedizinischen Untersuchung gerade hier die Todesursache feststellen.
Erneut steigen die Polizeitaucher in den Entwässerungsgraben und finden dort die sechste und letzte mit Mörtel ausgefüllte Wanne. Der Inhalt wird durchleuchtet, die Bilder werden dem Leiter der Hamburger Rechtsmedizin gemailt. Er erkennt eindeutig die Strukturen eines menschlichen Oberschenkels sowie eines Kopfes. Und im Schädel stecken zwei metalldichte Fremdkörper, sehr wahrscheinlich sind es Projektile. Diese Erkenntnisse reichen für Haftbefehle gegen den verdächtigen 46-Jährigen sowie gegen die frühere Lebensgefährtin des Opfers.
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