Alles in allem ist in einem Land wie Deutschland die Erfolgsquote bei der Identifizierung unbekannter Toter in der Rechtsmedizin allerdings vergleichsweise hoch; sie liegt bei über 95 Prozent. Es verbleiben letztlich nur einzelne nicht identifizierbare Leichen, die dann als „unbekannt“ erdbestattet werden.
Erwähnt sei der Reemtsma-Entführer Wolfgang Koszics, der am äußersten westlichen Ende von Europa, in Portugal, starb. Er hat sehr wahrscheinlich selber seinem Leben ein Ende gesetzt, indem er in suizidaler Absicht von einer hohen Klippe sprang. Sein Ziel war es eigentlich, vollständig zu verschwinden, er erwartete, dass der Leichnam auf den Atlantik hinausgetrieben werde. Durch besondere Strömungsverhältnisse landete der Körper allerdings in einer nahe gelegenen Meeresbucht. Immerhin dauerte es fast ein Jahr, bis die Identität des Leichnams festgestellt war.
Ähnliche Fälle gibt es immer wieder. Im Zusammenhang mit einem Suizid suchen die betreffenden Personen mitunter sehr einsame Plätze auf. Möglicherweise springen sie auch von einem Kreuzfahrtschiff in den unendlichen Ozean. Ihr Ziel ist ein Szenarium, bei dem der Leichnam vollständig von dieser Welt verschwindet.
Auch bei spektakulären Kriminalfällen ist nicht selten eine Vermisstensache inkludiert. Beispielsweise waren die vier Opfer des St. Pauli-Mörders Fritz Honka sämtlich ältere Prostituierte, die so isoliert und einsam lebten, dass sie von niemandem vermisst wurden. Ganz anders verhielt es sich bei den beiden Frauen, die der Hamburger Säuremörder getötet und in Fässern vergraben hatte. Jahrelang hatten die Fälle bei der Polizei als nicht weiter relevante Vermisstensache gegolten, weil man die Frauen im Ausland vermutete. Auch die vom sogenannten Maskenmann aus Schullandheimen entführten Kinder wurden zunächst wochenlang vermisst, weil der Mann die Körper der von ihm getöteten Jungen versteckt beziehungsweise vergraben hatte.
Speziell im Zusammenhang mit politisch motivierten Tötungen fehlt manchmal das „Beweismittel Leiche“. Erinnert sei an den Journalisten Jamal Khashoggi aus Saudi-Arabien, dessen Leichnam niemals gefunden wurde. Dennoch wurden mehrere Männer als Mörder verurteilt. Im afrikanischen Benin war im Zusammenhang mit Wahlen ein Oppositionspolitiker wochenlang verschwunden, bevor man seinen Leichnam fand, vergraben hinter der Hütte eines Voodoo-Zauberers.
Entführungen sowie das Verschwindenlassen von Personen nach ihrer Ermordung kennt man insbesondere aus dem Bereich der organisierten Kriminalität. Kriminellen Organisationen wie der Mafia werden spezielle Kenntnisse und Verfahren zugerechnet, mit denen man Tote verschwinden lassen kann. Solche Fälle von „Mord ohne Leiche“ führen häufig dazu, dass die Täter nicht zu überführen sind.
In Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen kommt es in einem großen Ausmaß zu Tötungen, Verschollenheit und Vermisstensachen. Erinnert sei zum Beispiel an die vielen Tausend Toten aus Srebrenica in Bosnien-Herzegowina, deren Körper und Überreste man immer noch sucht, um sie den Angehörigen zurückzugeben. Erinnert sei auch an die vielen Toten und Massengräber vergangener Kriege sowie aktueller kriegerischer Auseinandersetzungen, etwa in Syrien. In Ruanda wurden während des Genozids an den Tutsi eine Million Menschen innerhalb von hundert Tagen getötet. Hamburger Rechtsmediziner haben sich an der Ausgestaltung einer Gedenkstätte in Murambi am Rande des Regenwaldes beteiligt. Dabei ging es ausdrücklich nicht um die Identifikation einzelner Toter, sondern um das Wachhalten der Erinnerung an den Genozid.
Diese traurige und zugleich tröstende Wahrheit betrifft Menschen auf der ganzen Welt: Auch wenn ein geliebter Mensch vermisst bleibt — in unseren Erinnerungen ist er immer bei uns.
Versenkt in einem Grab aus Stein
Es ist tiefe Nacht, als sich eine Gestalt aus dem Dunkel des Hauseingangs schleicht. Der Mann ist schwarz gekleidet, nur seine Silhouette ist gegen den sternenlosen Himmel auszumachen. Er läuft geduckt zu einem Nebengebäude, dabei wuchtet er eine Schubkarre vor sich her. Das Rad quietscht unter dem schweren Gewicht eines massigen Körpers, der hastig und nachlässig in der Karre verstaut worden ist. Zwei Beine eines Menschen hängen schlaff über den hinteren Rand des Gefährts. Und vorne, wo der Kopf zu liegen gekommen ist, tropft unablässig Blut als schmale Spur in den lehmigen Boden des Hofes. Die finstere Gestalt setzt einen Spaten an, um ein Grab zu schaufeln — ein Grab, das niemals jemand finden soll.
Das Böse hat in ein kleines, verschlafenes Dorf Einzug gehalten.
Das Abgründige hat sich an einem Ort eingenistet, in dem bis dahin die ländliche Harmonie herrschte, die Stille. Es ist eine Gegend in Schleswig-Holstein, wo der Blick meilenweit schweifen kann, wo Tiere auf satten Weiden grasen, eine Region, in die Menschen ziehen, die Ruhe suchen. Es ist auch ein Ort, wo ein Lindenblatt ins Wappen aufgenommen wurde, als Symbol für einen Baum, dem von alters her die Kraft zugesprochen wird, das Schicksal „gelinde“ zu stimmen, also milde. Es hat nicht gefruchtet.
Denn hier, in diesem 300-Seelen-Ort in Dithmarschen, hat sich ein Verbrechen abgespielt, das in seiner Brutalität und seiner Abgebrühtheit schockiert. Es ist ein Fall, der schließlich als „Stückel-Mord“ durch die Medien geht. Lange Zeit ist die Tat unentdeckt geblieben. Es hat keine Leiche gegeben, noch nicht einmal einen ernsthaften Verdacht. Bis ein Schüler eines Tages plötzlich mitten im Unterricht aufsteht und wortlos das Klassenzimmer verlässt. Er hat es eilig. Zu lange schon hat sein Gewissen den 17-Jährigen wie eine schwere Last bedrückt. Jetzt geht er zur Polizei. Er hat sich entschlossen, das Unfassbare zu melden.
Knapp zwei Jahre zuvor, im April 2017, macht man sich im Ort noch nicht viele Gedanken, als ein einundvierzig Jahre alter Mann spurlos verschwindet. Es handelt sich um einen Fenster- und Treppenverkäufer, der seit einigen Jahren zusammen mit seiner Lebensgefährtin und den beiden gemeinsamen Töchtern auf einem Hof in dem kleinen Ort im Kreis Steinburg lebt. Die vier halten Pferde, Schafe, Hühner und Gänse, es sieht nach dem harmonischen Landleben einer glücklichen Familie aus.
Als die Frau ihren langjährigen Bekannten Yasar S. als neuen Mitarbeiter ein Zimmer auf dem Hof beziehen lässt, ist es jedoch mit der Harmonie vorbei. Die Chefin und der 46-Jährige kennen sich von früher aus dem Hamburger Rotlichtmilieu, wo sie als Prostituierte gearbeitet hat und er als Aufpasser. Offenbar schweißt die gemeinsame Vergangenheit die beiden mehr zusammen, als es dem Familienleben guttut. Der neue Mitbewohner wird nun zum Störfaktor auf dem Hof; es kommt zu Spannungen zwischen ihm und dem Gutsbesitzer. Wenn der eine der Lebensgefährte der Hausherrin ist, der andere aber nun ihr Liebhaber wird, kann das nicht gutgehen.
Und dann verliert sich Ende April 2017 von dem Familienvater jede Spur. Seine Partnerin Jessica M. bleibt gegenüber ihrem Umfeld bemerkenswert gefasst. Sie erzählt einer Nachbarin, dass ihr Mann, der gebürtige Pole Miroslav P., wohl abgehauen sei, vermutlich in sein Heimatland. Sie habe das Haus verlassen vorgefunden, als sie von einem Ausflug nach Hause gekommen sei. Alle Türen hätten offen gestanden. Etwa eine Woche später meldet die 37-Jährige ihren Lebensgefährten offiziell als vermisst.
Ahnt sie, dass es vermutlich keine aufwendigen, intensiven Suchmaßnahmen geben wird?
Wenn ein Kind oder Jugendlicher vermisst wird, wird bei der Polizei sehr zügig eine Suchaktion in die Wege geleitet, oft mit mehreren Hundertschaften. Je nach Situation werden auch Hunde, Hubschrauber und Wärmebildkameras eingesetzt. Alles wird getan, um das Kind, das vermutlich in Gefahr schwebt, möglichst schnell zu finden. Jede Stunde zählt, vielleicht sogar jede Minute.
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