DIE WAHRHEIT IST DER BESTE KRIMI
KLAUS PÜSCHEL/BETTINA MITTELACHER
WENN SEX BÖSE MACHT
Vorbemerkung
DAS BÖSE IST ÜBERALL
Hilfe für die Opfer
ARZT UND UNGEHEUER
Gefährliches Chloroform
DER SADIST, DER SICH „SCHWEINENETT“ FAND
Wie die „Handschrift“ einen Täter verrät
DIE FRAU, DIE ZU ALLEM BEREIT WAR – AUCH ZUM MORD
Wenn das Opfer zum Täter wird
DIE TOTEN FRAUEN AUS DEM BUNKERVERLIES
Wann ist Sex „nicht normal“?
DER „ALTE OPI“ MIT DER TARNKAPPE
Das Opfer bekommt „lebenslang“
ANGEMACHT UND AUSGERASTET
Gewalt – so vielfältig wie die Täter Untersuchung in Sektionssaal und Opferambulanz
IM WEINEN LIEGT NICHT IMMER DIE WAHRHEIT
Schuldig? Oder unschuldig?
NACHWORT UND DANKSAGUNG
IMPRESSUM
WENN SEX BÖSE MACHT
Vorbemerkung
Money makes the world go round. Dieser Vers aus dem Song „Money Money“ des Musicals „Cabaret“ ist zum geflügelten Wort geworden. Geld regiert die Welt. Es klingt wie eine Tatsache, die man gut finden oder bedauern mag.
Money makes the world go round? Wer sich professionell mit Verbrechen beschäftigt, sei es als Rechtsmediziner, als Ermittler, Jurist oder auch als Reporter in Strafprozessen, weiß, dass es eine noch viel stärkere, elementare Stimulanz im menschlichen Leben gibt. Eine Trieb-Kraft, im Wortsinn: der Sex. Sex makes the world go round.
Was ist das „primum movens“? Was bewegt den Menschen, wann, wie, wo und warum zum Verbrecher zu werden? Seit Anbeginn der Menschheit haben dunkle Mächte die Geschichte bestimmt: Machtstreben, Gewalt, Hass, Habgier … und eben vor allem auch der Sex.
Was ursprünglich eine Frage des Überlebens war, die Fortpflanzung, die Weitergabe des Erbguts, verbunden mit dem Fortbestehen der Menschheit, wurde im Lauf der Jahrtausende zu einem alles bestimmenden und besetzenden Zielfaktor unseres Daseins — während der Fortpflanzungstrieb zunehmend verkümmerte. So wunderschön und erfüllend Sex sein kann, so zerstörerisch kann er für manche Menschen werden. Unzählige schwerste Straftaten zeugen davon, bis hin zum vielfachen Mord.
Und so landen dann die Opfer jener Verbrecher, die auch Triebtäter genannt werden, auf den Obduktionstischen der Rechtsmediziner. Sie sind die Ärzte für die Schattenseiten des menschlichen Lebens. Sie untersuchen die (über-)lebenden und toten Opfer von sexueller Gewalt.
In den Opfern lesen wie in einem Buch, die verängstigten, geplagten, schweigenden Menschen und auch die Toten zum Sprechen zu bringen – das ist das Credo der Rechtsmedizin.
Die Leiden und die Vorgeschichte der Verletzten, der Missbrauchten und der Toten zu rekonstruieren, das ist das Ziel. Und zu einer gerechten Verurteilung des Verursachers und zur Prävention weiterer Taten beizutragen.
Dahinter steht dann stets die Frage nach dem Warum. Warum hat gerade dieser Täter das getan? Was hat ihn bewegt? Was hat er sich vorgestellt? Was geht in seiner Fantasie vor? Wie arbeitet seine Psyche? Und was hat das Opfer bei ihm selbst bewegt, was hat die Tat mit ihm selbst gemacht? Nie wieder …? Oder: immer wieder …?
Rechtsmediziner wissen: Bei Verbrechen gibt es nichts, was es nicht gibt! Alles war schon da. Alles kommt wieder. Sätze wie „Das wird niemals wieder vorkommen“ oder „Das hätte ich dem nie zugetraut“ sind leider unglaubwürdig. Jeder kann es gewesen sein. Und ebenso gilt: Jeder kann auch Opfer werden, völlig unerwartet.
Zunächst muss man feststellen: All dies ist (auch) eine Sache der Definition, der Regeln und Gesetze, die wir uns selbst geben. Bestimmte Extremformen von Sexualität (aus heutiger Sicht) waren nicht immer und überall verboten. Sitten und Gebräuche ändern sich. Gesetze werden von Menschen gemacht, von Kontinent zu Kontinent, von Land zu Land anders. Homosexualität, Abtreibung, Prostitution, Pornographie und vieles andere mehr werden je nach Kultur und Gesellschaft mit einem wechselnden Verständnis gelebt und entsprechend unterschiedlich beurteilt und somit verurteilt.
Aber auch Vielfalt hat ihre Grenzen: dort, wo die Freiheit und die Aktion des einen mit der Selbstbestimmung des anderen und dessen Unversehrtheit kollidiert.
Sexuelle Aspekte und Lustvorstellungen spielen für die Menschen eine herausragende Rolle.
•Sex bedeutet den Menschen extrem viel.
•Sex ist der Motor der Evolution.
•Sex erregt und bewegt die Fantasie.
•Sexualhormone bestimmen nicht nur unser Gefühlsleben, sondern unsere Handlungsweisen.
•Sex macht Spaß, Sex ruft die höchsten Lustgefühle hervor.
•Sex macht einige auch süchtig, sexsüchtig.
•Sexsymbole erregen unsere Aufmerksamkeit.
•The „sexiest woman/man alive“ wird für viele zu einem Vorbild.
•Sexspiele garantieren für die Betreiber einen hohen wirtschaftlichen Umsatz.
•Unerfüllte sexuelle Wünsche und Fantasien können zur Motivation und zum Motor eines Verbrechens werden.
•Es gibt immer wieder Sex-Monster.
•Sexuelle Macht „macht an“.
•Sexuelle Präferenzen sind zunehmend variabel.
•Sex sells.
Für manche Menschen fallen dann alle Schranken. Grenzen verschwimmen, Übergänge zu einem normalen und unauffälligen Leben sind fließend. Vieles spielt sich in Grauzonen ab oder auch im Dunkeln oder, bezogen auf das Internet, im sogenannten Darknet. Extreme Ausbrüche und Grenzüberschreitungen sind immerhin (noch) vergleichsweise selten.
Aber: Sie verschwinden nie ganz. Vielleicht nehmen sie sogar zu. Es gibt sie, auch in scheinbar idyllischen Umgebungen auf dem Land oder in kleinen Dörfern. Über das Internet erreichen Missbrauchsmöglichkeiten die Menschen überall.
Die alltägliche Arbeit in der Rechtsmedizin geht heute ganz erheblich und überproportional mit der Untersuchung, Aufklärung und Beurteilung von Fällen einher, die von sexuellen Motiven und Übergriffen gekennzeichnet sind. Gesetzesüberschreitungen und Motivlagen, bei denen sexuelle Aspekte eine zentrale oder zumindest mitbestimmende Rolle spielen, betreffen einen großen Teil der rechtsmedizinischen Routine: zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch von Kindern, Nötigung, Vergewaltigung, Unzucht mit Abhängigen, Pädophilie, Inzest, Homosexualität, (illegaler) Prostitution, sexueller Sklaverei, ritueller sexueller Gewalt, Menschenhandel, Sodomie, sexuell motivierten Verletzungen, Entführung, Tötungsdelikten, Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebs („Lustmord“), Serientaten, Kriegsvergewaltigungen.
In Zusammenhang mit Sexspielen und Sexualverbrechen gibt es alles, was im weiten Spektrum der Rechtsmedizin relevant ist. Es gibt alle möglichen Formen der Gewalt, der Ausübung von Zwang sowie der Beeinflussung durch Substanzen wie Alkohol und Drogen bis hin zu K.o.-Tropfen und Narkosemitteln. Weiterhin sind aufzuführen: (Selbst-)Verletzungen, Unfallmechanismen, Fremdkörper an allen möglichen Stellen des Körpers und in allen Körperöffnungen, Tätowierungen, Fixierung, Fesselung, Todesfälle, Tötungsdelikte, Leichenverstümmelung und -zerstückelung, Kannibalismus.
Sexuell motivierte Verbrechen haben stets eine kriminalistische, psychologische und medizinische Dimension. Art und Ausmaß der praktizierten Gewalteinwirkung sind bizarr und extrem. Sie richten sich bevorzugt auf die primären und sekundären Geschlechtsorgane, sind aber auch gekennzeichnet von Aspekten des Quälens, des Schmerzzufügens und der Machtausübung. Macht spielt im sexuellen Bereich eine bevorzugte Rolle. Insgesamt muss man bei Sexualverbrechen immer wieder feststellen: Die Täter nehmen keinerlei Rücksicht auf die Psyche des Opfers. Ob es leidet, ob es Schmerzen hat, ob es hilf- und wehrlos ist, spielt bei der Durchsetzung der sexuellen Fantasie anscheinend überhaupt keine Rolle. Das Opfer wird entpersonifiziert. Zuwendung oder Empathie sind bei einem solchen Täter nicht vorhanden. Betroffen sind Erwachsene, aber auch kleine Kinder ebenso wie Gebrechliche, Bewusstlose und sogar Tote. Für die Aufklärung ist bedeutsam, dass Sexualverbrechen manchmal vorgetäuscht werden, um eine eigentlich zugrunde liegende Motivation zu kaschieren und damit eine falsche Spur zu legen.
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