Gingen die Karawanen Borsippas nicht nach Indien, und schickte nicht Babylon seine kunstgestickten Teppiche nach Phönizien und Hellas?
Ist je unser Webstoff schöner gewesen als das Leinen Sidons? Waren unsere Becher je glänzender als das grüne Glas Phöniziens? Haben wir schimmernderen Purpur, als ihn Tyrus aus Kermes geschaffen?
Wir fertigen Bücher mit schwarzen Lettern — aber ist unsere schwarze, tote Schrift etwa schöner als die Inschriften auf den Gräbern der Achämeniden zu Persepolis und den Felsen von Behistun? Was aber hat unsere Zivilisation gegen die Kultur der Antike eingetauscht? Wir haben das goldene Zeitalter in ein Grab des ewigen Schematismus verwandelt. Dort war eine Kultur, die auf der Liebe in jeglichem Sinne fusste. Unsere Zeit aber ist schwach geworden in ihren Anstrengungen; unsere Zeit ist wie ein Riesenungeheuer, das die idealen Kräfte zermürbt und die Persönlichkeiten in der Masse zerstampft.“
Am nächsten Morgen sprach die Oberin zu Thomas Förster: „Herr Seminarlehrer, ich habe die Empfindung, dass Sie allzusehr auf die Geschichte der Vergangenheit eingehen. Es ist Ihnen bekannt, dass Ihre Schülerinnen bereits im ersten Präparandenkurs das Altertum, und bis zum zweiten Seminarkurs die Geschichte des Mittelalters gelehrt bekamen. Ich bitte Sie also, sich streng an die Neuzeit zu halten.“
„Ehrwürdige Mutter“, entgegnete Thomas Förster, „das eine ist schwer von dem anderen zu trennen. Es gibt keine abgeschlossenen Epochen der Weltgeschichte, und um die besonderen Merkmale auch der Neuzeit zu verstehen, muss man wieder zu den Wurzeln aller Kulturerscheinungen zurückgreifen.“
„Ich wünsche aber, dass Sie den Geschichtsunterricht strenger in den Grenzen des Lehrplans halten“, entgegnete die Oberin in sichtlicher Ungeduld.
Thomas Förster schwieg. — — —
Nie waren die Seminaristinnen mit grösserer Bereitwilligkeit einem Vortrag gefolgt.
„Sie schwärmen alle für ihn“, bemerkte Schwester Benedikta voll Verzweiflung, denn sie sah den Konflikt bereits voraus und wünschte nichts sehnlicher, als dass Thomas Förster rechtzeitig in den schematischen Schulplan einlenken würde.
Aber in der Form seines Unterrichts liess er sich keine Vorschriften machen. Er verband mit dem Vortrag über Geschichte auch Streifzüge in das Gebiet der Literatur. Er kam über Schiller und Goethe hinweg auf die modernsten Dichter, nannte Namen, von denen nicht einmal Schwester Clementina jemals etwas gehört. Im Kloster war neben den klassischen Dramen, dem Nibelungen- und Hildebrandtslied auch das Wessobrunner Gebet in althochdeutscher Sprache gelesen worden. Der erste Teil aber, der den Versuch einer heidnischen Gestaltung der Weltanschauung in dichterischer Form darstellte, wurde stets fortgelassen. Thomas Förster kam gerade auf diesen Teil einmal zurück, obgleich ihm Schwester Clementina einen warnenden Blick zuwarf.
In ihrer Verlegenheit wandte sich die Oberin an den Superior. Der geistliche Rat war bestürzt, als er vernahm, in welch freizügiger Form der neue Seminarlehrer den Unterricht betrieb. Er stattete ihm plötzlich einmal selbst einen Besuch ab und hörte zu seinem Schrecken, dass Thomas Förster sogar auf das Gebiet der Philosophie überging.
Er wagte nicht, den schnell und mächtig hinfliessenden Redestrom des Lehrers zu unterbrechen. Aber er meinte, an den lautlos aufhorchenden Mädchen, an den glänzenden Augen, den geöffneten Lippen bereits den Grad der Zerstörung zu erkennen, den diese freie Form des Unterrichts angerichtet.
Nach Schluss der Stunde jagte er:
„Herr Seminarlehrer, ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie sich von Tag zu Tag mehr in Gegensatz zu dem hier herrschenden Lehrplan setzen. Unser Schematismus enthält weder Philosophie noch diese Form der Literatur . . .“
„Hochwürdiger. Herr Geistlicher Rat“, unterbrach ihn Thomas Förster fast heftig, „der Schematismus schlägt keine Brücken zum Leben, zur vernunftgemässen Bildung, mindestens nicht zur Fähigkenit einer eigenen praktischen Lehrtätigkeit. Dazu aber müssen diese jungen Damen erzogen werden. Die Frage, ob sie für den Unterricht der Unterklassen Philosophie benötigen oder nicht, erscheint mir dabei durchaus gleichgültig. Auch der Jurist hat zur Bildung von Schriftsätzen kaum die Kenntnis des Sophokles nötig und würde doch die humanistische Vorbildung schwer vermissen. Es handelt sich hier um Fundament!“
„Wenn wir Ihnen schon solche Freiheiten einräumen würden, Herr Seminarlehrer, dürfte sich Ihre Lehrtätigkeit auf dem Gebiete der Philosophie niemals über das rein Theologische hinaus bewegen . . .“
„Wenn Sie Theologie im Sinne des grossen Schleiermacher meinen, so . . .“
Nein, keinesfalls! Sie müssen sich durchaus an die christlichen Glaubenssätze und an das Dogma halten!“
„Ich muss Ihnen darauf erwidern, dass, wenn ich Philosophie überhaupt lehre, ich mich über ihre Geschichte verbreiten muss; eine gesunde Beurteilung derselben lässt aber doch keine Bevorzugung der Orthodoxie zu!“
Der Geistliche Rat schüttelte stumm den Kopf. Er war bereits mit sich einig, dass ein anderer Lehrer als Ersatz gesucht werden müsste. Die schroff ablehnende Form, in der Thomas Förster seinen Erfahrungen und seiner von unerschütterlichem Glauben getragenen Überzeugung entgegentrat, erbitterte ihn aufs Äusserste, um so mehr, als der Seminarlehrer sich auch weiterhin keinen Zwang auferlegte. — Thomas Förster war ein Enthusiast. Ungewöhnliche Fähigkeiten hatten es ihm ermöglicht, beinahe spielend seine Vorbildung zu meistern. Aber er konnte sich kaum in den Rahmen fügen, in den er nun gehörte. Er verlangte für sich und seine Schüler, für seine ganze Berufsklasse rücksichtslose Forschung, Lehrfreiheit und völlige Unabhängigkeit des Geistes.
Er vergass dabei, dass Selbstzucht die erste Bedingung für geistige Freiheit bedeutet. Er achtete keine Schranken und hatte, nur von dem Bestreben geleitet, seiner Überzeugung stets und bei jeder Gelegenheit Ausdruck zu verleihen, selbst im staatlichen Seminar schon mehrfach Anstoss erregt.
Eines Tages kam er in der Naturgeschichte sogar auf den Darwinismus zu sprechen.
„Der Kampf ums Dasein“, sprach er, „dem Sie eines Tages in irgend einer Form ausgesetzt sein werden, hat seit Uranfang der Dinge den Prüfstein für alles Lebendige abgegeben. Im Verfolg dieses Kampfes entwickelten sich die Arten; abgeschliffen durch Forderungen der Natur, Lebensgefahren und dadurch bedingte unerhörte Anstrengungen, wuchs, Generationen schwächlicherer Arten hinter sich lassend, der Mensch als Krone der Schöpfung bis zu seiner heutigen Grösse empor. Der Kampf ums Dasein hat ihn nicht nur über die Tiere erhoben; in ihm wächst auch die Persönlichkeit über sich selbst hinaus. Diese Höherentwicklung ist eine Frage nicht nur der Leistungsfähigkeit des Geistes, sondern auch seiner Souveränität, der Möglichkeit, sich über die ungezählten hindernden Elemente zu setzen, die das Leben des Einzelnen auch innerhalb des Organismus der Gesamtheit bedrohen. Jeder Mensch hat die sittliche Pflicht, an seiner Selbsterhebung mit allen Kräften zu schaffen, mit allen geistigen Waffen dafür zu kämpfen. In Ihre Hand ist dereinst das Schicksal so vieler Menschen gelegt. Sie bekommen diese Menschen sozusagen als Wachs, als Material, Sie können den Grund für ihre Vorwärts- oder Rückwärtsentwicklung legen. Darum müssen Sie wissen und stets darauf bedacht sein, dass das Leben eine Zusammensetzung unerhört komplizierter und widerspruchsvoller Elemente ist, in denen der Mensch sich behaupten muss. Das kann er nur, wenn er aus sich selbst heraus die Waffen für diesen Kampf erlangen kann, wenn er das rechte Verhältnis zwischen sich und dem unerhört grausam und gigantisch schönen Leben herzustellen weiss. Die Schwachen sind immer unterlegen — einem Naturgesetz zufolge, das seit tausenden und abermals tausenden von Jahren Geltung hat . . .“
Читать дальше