Gleichzeitig muss man sich klarmachen, dass soziale, normative wie ästhetische Ordnungssysteme nicht statisch sind, sondern Wandlungen unterliegen. Nur ein Beispiel: Während in der Generation der heute Fünfzig- bis Sechzigjährigen Tätowierungen randständigen Gruppen wie Seefahrern und Gefängnisinsassen vorbehalten waren, sind diese inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Anteil der Tätowierten in Deutschland hat sich in den vergangenen sieben Jahren verdoppelt. Waren es 2012 noch 11,4 %, sind es 2019 21 % der Bevölkerung. Besonders verbreitet sind Tattoos unter den 20- bis 29-Jährigen: Fast jeder zweite (47,1 %) trägt eines oder mehrere (Wort & Bild Verlag 2019).
Damit hat sich eine neue Körperordnung etabliert, zu der sich jeder junge Mensch irgendwie verhalten muss im vollen Bewusstsein, dass eine Normalität einer anderen Platz gemacht hat, sich aber auch rasch wieder verschieben kann. Wer sich für ein Tattoo entscheidet, trägt die Konsequenzen ein Leben lang, auch wenn sich die Mode wieder ändert. Der Verfallswert einer Ordnung steckt aber auch andere mit Unsicherheiten an wie z. B. das Ordnungssystem von Beziehungen, von Geschlechterrollen oder beruflichen Orientierungen. Umso drängender stellt sich die Frage, was man selbst für richtig und wertvoll festhalten will und ob man sich angesichts solcher Unsicherheiten – mit Hanna Arendt gesprochen – nur noch taktisch-instrumentell »verhalten« oder noch »handeln« kann (Arendt 1967).
1.3.1 Autonomie trotz Heteronomie: Jugendliche als Tänzer*innen zwischen Ordnungssystemen und Hybrid-Moral(en)
Kehren wir zu Serkan zurück, der sich darüber beschwert, dass er in der Schule weiter wie ein Kind behandelt wird, und auf der anderen Seite mit Stolz davon berichtet, was er im Gemüseladen seines Onkels leistet. Warum stellt sich dieser Ort trotz seiner zahlreichen Anforderungen für ihn so attraktiv dar? Auf der Habenseite steht die stundenweise Integration als Arbeiter in einem kommerziellen Betrieb und damit sein Einstieg in die Erwachsenenwelt; die damit einhergehende Anerkennung, die er dafür von Seiten des Onkels und seiner Eltern erfährt; eine für ihn attraktive Bezahlung und Erfahrungen einer positiven Identität mit Zukunftsperspektive. Auf der Anspruchsseite steht dem gegenüber, dass Serkan auf einen Gutteil seiner Freizeit verzichten muss, nicht rauchen kann und auch sonst den »Arsch (zusammen)kneifen« muss, weil er in Gestik, Mimik und Wortwahl stets höflich aufzutreten hat. Zudem muss er noch einen Teil des Geldes zu Hause abgeben, weil man dort knapp bei Kasse ist, oder bekommt es manchmal gar nicht erst ausbezahlt, weil Vater und Onkel seine Arbeitsleistung in einer Art bargeldlose Tauschökonomie einbeziehen.
Handelt Serkan selbstbestimmt? Verfolgt er ein autonomes Handlungsprojekt? Ja und nein. Manche der Regeln, die im Laden gelten, sind eindeutig fremdbestimmt und sein Handeln ist extrinsisch motiviert. Das Nicht-Rauchen bewältigt er z. B. im Modus einer externalen Regulation, hinter der die Angst vor einem möglichen Rauswurf steht. Serkan raucht dann eben vor und nach der Zeit im Laden.
Mit Blick auf das Wechselgeld oder das »Arsch kneifen« bewegt sich Serkan im Modus einer introjizierten Regulation. Er hat die Werte Genauigkeit und Höflichkeit verinnerlicht. Er legt sie auch an den Tag, wenn sein Onkel sich nicht im Geschäft aufhält, was gerade gegen Abend häufig vorkommt. Er ist stolz darauf, die Kasse bedienen zu dürfen, zugleich setzt ihn das auch unter Druck. Einmal hat er nachts nicht geschlafen, weil er sich unsicher war, ob er auf 50 statt auf 20 Euro herausgegeben hat. Manchmal nennt er seinen Onkel aber auch einen Geizkragen und denkt, dass es auf ein oder zwei Euro nicht ankommt.
Bezogen auf die Höflichkeit im Kundenkontakt könnte man von einer Mischung zwischen introjizierter und identifizierter Handlungsregulation sprechen. Einerseits weiß Serkan, dass es viele Gemüseläden im Bezirk gibt und man Kunden gewinnen oder halten muss. Sein Onkel macht ihm immer wieder vor, wie es geht und wie man mit den richtigen Worten und Gesten mehr verkaufen kann, als die Leute eigentlich wollten. Das imponiert Serkan und so macht es ihm häufig Freude, ähnlich gewandt und charmant aufzutreten und die Kunden um den Finger zu wickeln. In anderen Situationen kostet es ihn aber durchaus Mühe, freundlich zu bleiben, und er beschimpft die Kunden, wenn sie gegangen sind, leise für sich oder mit den anderen Angestellten.
Was das Geld betrifft, das er teilweise abgeben muss bzw. das in andere Transaktionen einfließt, scheint Serkan hin- und hergerissen. Einerseits identifiziert er sich durchaus mit der Rolle als Miternährer der Familie. Sein großer Bruder leistet das in noch viel größerem Umfang. Serkan wäre bereit, regelmäßig die Hälfte des Geldes abzugeben. Die Unklarheit seiner wöchentlichen Einnahmen erlebt er als fremdbestimmt. Mal geht er am Samstag mit 20 Euro ins Wochenende, andere Male nur mit 5 Euro oder einem großen Gemüsekorb für die Familie. Gleichzeitig hat er Angst vor den Reaktionen seines Vaters, wenn er die gängige Bezahlungspraxis in Frage stellen würde. Hier wird er – ähnlich wie in der Schule – wie ein Kind behandelt, über das die Erwachsenen bestimmen.
Wie lautet nun das Fazit? Autonomes Handeln: Ja oder nein? In Teilbereichen sicher nein. Aber bezogen auf die Motivation, sich diesen Ort zu erhalten, wohl ja.
Denn alles in allem ist das Arbeiten im Laden »mein Ding«, wie er sagt. Ein autonomes Projekt, auch wenn es von mehreren Strängen unterschiedlicher Fremdbestimmungsgrade durchzogen wird. Es verschafft ihm Status und Prestige bei allen, die er kennt. Nur wenige Peers, die mehr Wert auf Freizeit legen, bedauern ihn, was ihn aber nicht zu verunsichern scheint. Man kann vermuten, dass das Leitbild eines höflichen, charmanten und dabei auf seinen Vorteil bedachten Verkäufers in sein Kernselbst eingewandert ist und ihn stolz macht, wenn er diesbezüglich in eine Art »Flow« gerät (Csikszentmihalyi 2008). So will er sein oder werden und das kann er im Geschäft seines Onkels. Dieses Leitbild strahlt eine große Bindungskraft aus, obwohl er daneben noch eine weitere Zukunftsperspektive verfolgt.
Erinnern wir uns, wie heftig sich Serkan über die Schule beschwert hat: Was man dort alles nicht darf. Wie stark er die beiden Welten, Schule und Laden, kontrastiert hat. Aber auf die Frage des Interviewers, wann er sie denn verlässt, um ganz bei seinem Onkel zu arbeiten, führt er aus:
»Nee, nee, nee (schüttelt den Kopf, hebt die Hände). Stopp mal! Schule muss sein (macht eine Grimasse) ich brauch den Abschluss … mindestens Quali (d. h. qualifizierten Hauptschulabschluss) oder, falls es irgendwie geht, den MSA (mittlerer Schulabschluss). So isses, Mann, (lacht) ich will nämlich ins Krankenhaus (nickt mehrfach schnell hintereinander), ja, das können Sie ruhig wissen. Weil, ich will so ein Pfleger mit weißem Kittel und so was machen, mit Verbänden und Spritzen und allem so. Am liebsten so auf Intensiv, mit den ganzen Maschinen und dem technischen Kram. Das wär mein Traum. Ich weiß (nickt mehrfach), hört sich komisch an, und das will auch keiner, keiner, wo ich kenne. Aber ich wollte das schon als Kind (nickt, Pause). Mit so klein (gibt die Höhe für einen Fünf-, Sechsjährigen an). Und Arzt (macht eine Grimasse), so blöd bin ich ja nicht, das werde ich nie. Keine Chance! Obwohl meine Mama das immer gesagt hat, dass ich das kann. Aber die hat halt keine Ahnung von Schule und so. Aber Pfleger im Urban (Krankenhaus in Kreuzberg), das will ich und das, das schaff ich. Und deshalb, sag ich mir ›Serkan, Arsch kneifen‹ auch in der Schule (lacht). (Na)türlich hauen wir oft mal ab. Eine Stunde oder zwei … Ich rauch auch, so oft es geht, ich hab mein Handy heimlich dabei und wir lassen es krachen, wo’s geht (nickt, Pause). Aber. A-a-aber (gedehnt mit hochgezogenen Augenbrauen) ich mach meine Hausaufgaben, ja-a-a (lacht wie über einen Scherz), ehrlich! Ich bin nicht der Einzige, aber fast unter den Jungen, fast. Die Mädchen zähl ich da jetzt nicht. Die (anderen Jungens) lachen mich sogar aus deswegen. Ist mir egal. Ich mach’s, ich versuch’s jedenfalls, und wenn ich nur die Hälfte hab oder noch weniger und manchmal nur so Krickelkrackel fünf Minuten vorher, damit sie (die Lehrer*innen M.S.) was sehen (nickt, seufzt). Aber ich lege mich halt nicht mit denen an, wie manche von uns meinen, dass sie müssen. So von wegen große Fresse und Schläge androhen den Lehrern … Das muss ich nicht! Ich will mein Abschluss und wenn ich den hab, wenn ich den hab, dann brenn ich die Schule ab! Nein Spaß … (schüttelt den Kopf, lacht).«
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