Man mag externale Regulation als eine niedrige Stufe der Moralentwicklung einschätzen. Sie ist auch weit davon entfernt, als autonom gelten zu können. Und doch stellt sie eine Stufe dar, die manche Jugendliche nicht zuverlässig bedienen können – oder wollen. Ihre egozentrische Weltsicht und ihre Unfähigkeit zum Bedürfnisaufschub sind so groß, dass sie trotz möglicher Sanktionen bestimmte Regelverstöße begehen. Die Unlust einer späteren negativen Konsequenz kann entweder nicht vorausgesehen werden oder verblasst angesichts des momentanen Lusterlebens und bleibt deswegen für die Steuerung des eigenen Verhaltens irrelevant.
Andere Jugendliche – wenn auch nur wenige – fühlen sich von beinahe jedem Versuch der externen Regulierung herausgefordert und lassen es auf einen Machtkampf mit dem Regelvertreter ankommen. Die Ansprache lautet dabei oft. »Was wollen Sie von mir? Sie haben mir gar nichts zu sagen!« Hierbei kann es sich um ein Omnipotenzgebaren handeln, mit dem der Jugendliche schon seit Langem, auch schon als Kind, aufgetreten ist mit der Folge, dass sich die meisten Erwachsenen zurückgezogen und Regelübertretungen geduldet haben, um eine Konflikteskalation zu vermeiden. Es kann sich aber auch um eine Kompensationshaltung handeln, denn manchmal werden (oder wurden) solche Jugendliche in anderen Kontexten brutal gezwungen, sich zu unterwerfen (Familie, Peers), und versuchen, diese Kränkung durch auftrumpfendes Verhalten an anderen Orten, an denen sie mit weniger drastischen Maßnahmen rechnen, zu reparieren. Es kann sich aber auch um einen radikalisierten Autonomieanspruch eines Jugendlichen handeln, der sich vor einigen Jahren an fremdbestimmte Regeln anpassen konnte, die ihm heute aber als eine Form der Unterwerfung erscheinen, die er nicht mehr mit seinem Selbstbild vereinbaren kann (siehe oben Serkan).
B) Introjizierte Regulation meint, dass sich interne Anstöße zur Verhaltenssteuerung mit internem Druck verbinden. Zu den internen Anstößen kommt es, weil das Kind inzwischen die Gebote von Respektspersonen (Eltern, Lehrer*innen) verinnerlicht hat. Sie sind und bleiben in ihm präsent und beanspruchen Geltung, unabhängig davon, ob diese Personen anwesend sind oder nicht. Das Kind würde leiden, wenn es diesen verinnerlichten Ansprüchen nicht Folge leistete. Entweder brächte es seine Selbstachtung in Gefahr oder bekäme ein schlechtes Gewissen und zwar unabhängig davon, ob externe Autoritäten seine Regelverletzung mitbekommen oder nicht. Mit den Stichworten »Selbstachtung« und »schlechtes Gewissen« spielen Deci & Ryan auf die Konzepte Ich-Ideal und Über-Ich an. Mit diesen beiden entsteht das, was Fritz Redl control from within genannt hat (Redl & Wineman 1976). Introjizierte Regulation wäre nach diesem Verständnis eine Form der inneren Kontrolle, deren Inhalte auf die Wünsche und Gebote relevanter Anderer (Eltern, größere Geschwister, geachtete Lehrer*innen) zurückgeführt werden können, sich aber von diesen zuverlässig abgelöst hat. Diese relevanten Anderen müssen nicht mehr explizit erinnert werden. Die Inhalte können vor- oder unbewusst geworden sein. Die Regulative sind so verinnerlicht, dass sie sofort wirksam werden und in den laufenden Handlungsprozess intervenieren und diesen mitsteuern oder aber sofort nach Beendigung ins Bewusstsein schießen oder sich als Gefühl von Stolz oder Unwohlsein Präsenz verschaffen. Damit ist viel erreicht, aber noch keine autonome Handlungsregulierung.
Deci & Ryan schreiben:
»Eine introjizierte Handlungsregulation ist insofern internal, als keine äußeren Anstöße mehr nötig sind, aber sie bleibt doch weiterhin vom Selbst separiert. Metaphorisch gesprochen: Regulator und Regulierender sind verschieden, obwohl sie beide derselben Person innewohnen« (ebd. S. 226).
Auch hier lässt die Sprache von Deci & Ryan Vertrautheit mit der psychoanalytischen Terminologie vermuten. Denn dort würde man etwas Introjiziertes als Introjekt bezeichnen und damit ein inneres Objekt mit dem Charakter eines Fremden meinen. Es kann als unterstützend erlebt werden, als eine wohlwollende innere Stimme, oder als innerer Verfolger, dessen Einredungen einen bedrängen oder quälen und die man mit noch so viel Anstrengung nicht zur Ruhe bringen kann. Oder aber, das wird im folgenden Zitat von Bittner deutlich, sie bleiben unverbindlich und irrelevant:
»Wird nur (…) das verbal formulierte Gebot oder Verbot des Vaters oder der Mutter verinnerlicht, dann handelt es sich um keine ›innere‹, sondern nur um eine wahrscheinlich wenig wirksame ›internalisierte‹, sozusagen nach innen geklappte äußere Grenze. Eine innere wird daraus erst, wenn ich sie in mein Bild von der Welt aufgenommen habe – und das kann niemand für mich, das kann ich nur selbst tun« (Bittner 2016, 29).
Der Fremdheitscharakter vieler Ansprüche im eigenen Selbst dürfte der Grund sein, weshalb sich Kinder und in noch sehr viel stärkerem Ausmaß Jugendliche gegen diese Art der introjizierten Regulierung wehren. Wenn sie diese – teilweise oder überwiegend – als eine fremde Macht erleben, die ihr Innenleben besetzt hat, liegt es nahe, diese Stimme zu überhören, sich über sie hinwegzusetzen oder sie auszutricksen, indem man z. B. einen Keil zwischen diese Stimme und den eigenen Handlungsplan treibt. Dann ergreift man die Rolle des Regulators und bringt eine Handlung so zur Ausführung, wie man es gewünscht hatte, und beruhigt den Einspruch des Gewissens (des Regulierenden) dadurch, dass man diesem weis macht, es wäre in dieser Situation nicht anders gegangen, würde sich nur um eine Ausnahme handeln oder hätte gravierende Nachteile für sich und andere bedeutet, wenn man der Stimme gefolgt wäre. In der Sprache der Psychoanalyse sind das Rationalisierungen, mit denen man nachträglich Abweichungen von Ansprüchen des Über-Ichs oder Ich-Ideals rechtfertigt, um sich Schuld- oder Schamgefühle zu ersparen.
Wie wir gehört haben, kann dieses Stadium nicht autonom genannt werden. Gleichzeitig wären viele Eltern und Pädagog*innen glücklich darüber, wenn so viel an »innerer Kontrolle« halbwegs zuverlässig abrufbar wäre, prospektiv handlungsregulierend oder zumindest nachträglich in Form von Schuld- oder Schamgefühlen. Aber offensichtlich kann man nicht mehr davon ausgehen, dass Über-Ich und Ich-Ideal noch immer so effektiv wirken wie in der Stufe davor.
C) Das Stadium der identifizierten Regulation ist erreicht, wenn ein Verhalten vom Selbst als persönlich wichtig oder wertvoll anerkannt und deswegen auch praktiziert wird (ebd. 228). Man tut etwas nicht (mehr) deswegen, weil man es tun soll(te) oder sich bei Nichtbeachtung des Anspruchs auf unterschiedliche Formen von äußerem oder innerem Druck einstellen muss (schlechtes Gewissen, Selbstvorwürfe, Beschämung, diffuses Unwohlsein), sondern, weil man davon überzeugt ist, dass es sinnvoll und richtig ist und einem selbst und/oder anderen guttut und/oder mit einer gewünschten und erreichbaren Zukunft in Verbindung steht. »Diese persönliche Relevanz resultiert daraus, dass man sich mit den zugrunde liegenden Werten und Zielen identifiziert und sie in das individuelle Selbstkonzept integriert hat« (ebd.).
Man beachte den Unterschied zwischen internalisiert und identifiziert bzw. integriert. Etwas Internalisiertes verweist auf etwas ursprünglich Externes, während etwas, mit dem man sich identifiziert, die Spuren der Fremdheit abgestreift hat und zu einer eigenen Sache geworden und Teil oder Ausdruck des eigenen Selbst ist.
Vergleichen wir das mit der Situation von Jugendlichen: Viele betreiben Sport mit hoher Motivation und bringen dafür auch ein hohes Maß an Disziplin auf. Sie betrachten es als ihr Projekt, für das sie sich Ziele setzen und eigenen Regeln unterwerfen. Handelt es sich hierbei um ein autonomes Handeln? Nach Deci & Ryan, käme es auf die Art der Motivation an. Die Jugendlichen können den Sport verbissen betreiben und dabei unter Druck stehen. Bei Nichtbefolgung ihrer eigenen Handlungsregeln würden sie mit Selbstvorwürfen oder schlechter Stimmung rechnen oder mit Kritik von Seiten der Peers, weil sie sich in Gefahr sehen, dicker zu werden, als sie sein wollen, oder einen weniger muskulösen Körper zeigen zu können, als sie gerne hätten. Damit würden sie sich im Bereich von introjizierter Regulation bewegen. Es handelt sich um ein eigenes, aber nicht um ein selbstbestimmtes oder autonomes Projekt. Anders verhält es sich, wenn sie die Disziplin aufbringen, weil sie sich nach dem Sport ausgeglichen fühlen, sich besser konzentrieren können und es genießen, gesund zu sein. Und wenn sie sich hin und wieder einen faulen Nachmittag oder zwei Sport-freie Tage in der Woche gönnen, also engagiert, aber zugleich locker mit dem eigenen Handlungsprojekt umgehen. In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass die Integration des Anspruchs in das eigene individuelle Selbst stattgefunden hat, während sich die anderen Jugendlichen eher noch mit den Ideen eines kollektiven Selbst identifizieren, in dem sich die eigenen und die Ansprüche der Peers vermischen.
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