Schule stellt für Serkan eine weitgehend fremdbestimmte Welt dar. Er handelt dort über weite Strecken im Modus externaler Regulierung und passt sich so weit an, wie man ihn kontrollieren kann. Wo er kann, trickst er das System aus und nimmt sich seine Auszeiten bzw. das, was er als seine Rechte ansieht (rauchen, eine Stunde schwänzen, Handy etc.). An anderen Stellen scheint er sich Regeln zu eigen gemacht zu haben. So hat er sehr wohl verstanden, dass der Verzicht auf Gewalt ganz oben auf der Erwartungsliste seiner Lehrer*innen steht und es ihm Vorteile verschafft, wenn er sich diesbezüglich berechenbar und verlässlich zeigt. Ähnlich strategisch bedient er das System, indem er Hausaufgaben macht. Er kalkuliert, dass die Hälfte des Aufgegebenen ausreicht, um die Lehrer*innen zufriedenzustellen, und dass selbst »Krickelkrackel« für diese ein willkommenes und ganz und gar nicht selbstverständliches Engagement darstellt, weil die meisten männlichen Jugendlichen gar nichts mitbringen. Dabei handelt es sich um dieselben Jungen, mit denen er abhaut und rauchen geht und nimmt sogar in Kauf, dass diese ihn auslachen. Er glaubt aber, dass die Lehrer*innen seine Geste honorieren und er damit seinem Ziel, dem Schulabschluss näher kommt (wahrscheinlich auch mit Hilfe einer gnädigen Versetzung, falls diese einmal wackelig sein sollte). All das kostet ihn viel Mühe, auch in der Schule muss er »Arsch kneifen«. Aber das Ganze lohnt sich für ihn, weil er ein Ziel hat: den Abschluss und das Erlernen des Berufs eines Pflegers. Den scheint er sich als den kleinen Bruder des Arztes vorzustellen. Das mag naiv sein, aber es beinhaltet auch einen Gutteil Realismus, denn ein Studium der Medizin ist wirklich nicht drin bei ihm. Die »Weiße-Kittel«-Idee« scheint noch inniger zu seinem Kernselbst zu gehören als der Typ des levantinischen Händlers, der ihn für die Arbeit im Geschäft motiviert.
Mischformen, wie sie Serkan schildert, kommen bei Deci & Ryan nicht vor. Weder, dass junge Menschen in einer Stufe ganz unterschiedliche Motivationsmodi nebeneinander praktizieren, noch dass massive Fremdbestimmungsanteile in einem Handlungsfeld trotzdem erlauben, dass dort ein autonomes Handlungsprojekt stattfindet und über längere Zeit motiviert verfolgt wird. Angesichts der Möglichkeit, neue Fähigkeiten auszuprobieren und zu entwickeln, und bezogen auf die Anerkennung als verantwortlich Handelnder und Beinahe-Erwachsener steht der Laden bei Serkan viel höher im Kurs als die Schule. Deswegen ist es auch kein Wunder, dass er die dort geltenden Ge- und Verbote beachten will und kann. Gleichzeitig ist er mit seinem Zukunftsbild als Krankenpfleger so stark identifiziert, dass er für den in Aussicht gestellten Schulabschluss auch dort die geforderten Anpassungsleistungen bedienen kann und – am wichtigsten – dies als seine autonome Entscheidung verbucht. Die Anforderungen an den beiden Orten sind zum Teil ganz unterschiedliche. Die Menschen, die sie vertreten, stammen aus unterschiedlichen Kulturen und vertreten unterschiedliche Werte. Aber mit der Formel »Arsch kneifen« hat Serkan eine Handlungsorientierung gefunden, mit der er hier wie dort über die Runden kommt. Zugleich wirkt er durchaus zufrieden mit dem Ausmaß der Freiheiten, die er sich nimmt, und lässt es immer wieder mal »ordentlich krachen«.
Entwicklungspsychologisch betrachtet sind diese Leistungen nur möglich, wenn man annimmt, dass Serkan neben einer gut entwickelten Wahrnehmung für die Erfordernisse fremder Ordnungssysteme über ein hohes Ausmaß an Impulskontrolle verfügt, das ihm ermöglicht, im Hier und Jetzt so zu agieren, dass er seine Zukunftspläne damit nicht gefährdet. Zudem zeichnet ihn offensichtlich eine lebendige Phantasie aus, in der sich Rollen wie die des Verkäufers oder Pflegers mit unbewussten, vermutlich aus der Kindheit stammenden Identifikationen aufladen, sodass sie für ihn zu einer Berufung werden. Gleichzeitig sind die Anpassungsleistungen gepaart mit einer großen Treue zu seinen eigenen (triebhaften) Wünschen. Wo ihm das möglich erscheint, geht er diesen nach und schafft sich auch mit Hilfe von Regelbrüchen und Grenzüberschreitungen die dazu erforderlichen Freiräume. Mit Krappmann kann man hier die Bedeutung von Ambiguitätstoleranz sehen, da es Serkan zu gelingen scheint, sich als beides zu sehen, als Regelbefolger und Regelbrecher (Krappmann 2000, 45 f.). Mit Bittner könnte man formulieren, dass Serkan nicht nur »hinreichend gut« sein will, sondern auch »hinreichend schlecht« sein kann (Bittner ebd. 31). Erst damit gelingt ihm eine Balance zwischen dem Bedienen von fremden Erwartungen und dem Ausleben von Eigensinn. Eigensinn meint hier mit Baer & Baer das Sich-Besinnen auf das, was man selbst braucht, damit es einem gut geht, durchaus auch im Bereich körperlicher und sinnlicher Bedürfnisse (wie bei Serkan das Rauchen oder die Stunden, in denen er die Schule schwänzt etc.) (Baer & Baer 2018).
Und das ist das Besondere: Diese Ausbalancierung gelingt ihm an drei oder gar vier sozialen Orten: in der Schule, im Geschäft seines Onkels und in der Familie, wobei in der letzteren am wenigsten Platz für Eigensinn zu sein scheint und die Verpflichtungen überwiegen; offensichtlich ist ihm Verbundenheit mit den Mitgliedern seiner Familie aber so wichtig, dass er dafür einiges auf sich nimmt und erduldet (Angst, so schien mir, spielt bei ihm dagegen keine Rolle). Eine andere Ausbalancierung gelingt ihm mit seinen Peers: Einerseits lässt er es als Kumpel mit ihnen »krachen«, andererseits grenzt er sich von deren Machogebaren und Gewaltandrohungen gegenüber den Lehrer*innen ab und macht, anders als die meisten anderen, Hausaufgaben.
Damit zeigt sich Serkan in meinen Augen als Tänzer zwischen Wertewelten, der eine Hybridmoral (Bahbah nach Müller 2010) entwickelt hat, d. h. mehrere neben- und miteinander entstandene und aktuell mal enger, mal loser miteinander verbundene Moralsysteme in eine Art Metastruktur integriert hat. So kann er mehrere Handlungsweisen nebeneinander auf unterschiedlichen Stufen der Moral- und der Autonomieentwicklung praktizieren, ohne dabei eine Identitätsdiffusion zu erleiden (siehe dazu auch die Geschichte von Deborah
Kap. 5.3). Wie schafft er das? Er scheint sich durchgängig als ein steuerndes Zentrum zu begreifen. Je nachdem, wie er den jeweiligen Kontext in Bezug auf dessen emotionale Bedeutung für sich selbst, in Bezug auf seine Relevanz für seine Zukunft, aber auch in Bezug auf Machtverhältnisse und Spielräume für abweichendes Verhalten einschätzt, reguliert er sein Verhalten auf dieser oder jener Motivationsstufe und zeigt demnach eine beträchtliche Flexibilität, die von Gehorsam über Regelverletzungen bis zu selbst gewollter Verantwortungsübernahme reicht.
1.3.2 Drei Muster der Ausbalancierung
Was Serkan gelingt, scheint mir der günstigste Ausgang für die Gratwanderung zwischen Regelbeachtung und der Realisierung von Autonomieansprüchen, die wir als typische Entwicklungsaufgabe für das Jugendalter propagiert haben: eine wie auch immer geartete Ausbalancierung, die sich für den Jugendlichen stimmig und halbwegs autonom anfühlt (A) (
Abb. 2). Man kann sich hier eine große Varianz von mehr oder weniger oppositionellem und/oder angepasstem bzw. subversivem Verhalten vorstellen und doch eine gewisse Zuverlässigkeit in der Orientierung, wie sie in diesem Zitat aus der 14. Shell-Studie zum Ausdruck kommt, das meiner Einschätzung nach noch immer Gültigkeit reklamieren kann:
»Die meisten Jugendlichen reagieren auf die neue gesellschaftliche Agenda nicht mit ›Protest‹ oder mit einer ›Nullbock-Einstellung‹, wie es früher in Teilen der Jugend der Fall war. Sie erhöhen vielmehr ihre Leistungsanstrengungen und betreiben ein aktives ›Umweltmonitoring‹. Das heißt sie überprüfen ihre soziale Umwelt aufmerksam auf Chancen und Risiken, wobei sie Chancen ergreifen und Risiken minimieren wollen. Mit der neuen pragmatischen Haltung einher geht auch ein ausgeprägt positives Denken. Obwohl die Jugendlichen die Gesellschaft von vielen Problemen belastet sehen, entwickeln sie eine positive persönliche Perspektive. Der ideologisch unterfütterte Pessimismus früherer Generationen, der besonders von den Studenten und Abiturienten kultiviert wurde, ist passé. Diese Einstellung passt nicht mehr zu dem unideologischen und leistungsorientierten Habitus dieser neuen Generation« (Jugend 2002, 4).
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