Kirsten Adamzik / Mikaela Petkova-Kessanlis
Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8223-2 (Print)
ISBN 978-3-8233-0096-0 (ePub)
Zur Einleitung in den Band
Stil ist ein heterogenes Phänomen, das sich durch eine funktionale Vielfalt auszeichnet, die sich erst in und mit der Realisierung in konkreten Texten entfaltet und entsprechend fassbar wird. Aufgrund unseres stilistischen Wissens haben wir an Texte aus verschiedenen Handlungsbereichen bestimmte stilistische Erwartungen. Konkrete Texte, denen wir in unserer Kommunikationspraxis begegnen, können diesen stilistischen Erwartungen mehr oder weniger entsprechen oder mehr oder weniger stark davon abweichen.
Fach- bzw. Wissenschaftsstil gelten als relativ standardisiert. Konstitutiv für den wissenschaftlichen Stil sind Stilprinzipien wie Unpersönlichkeit, Abstraktheit, Neutralität, Sachlichkeit, Folgerichtigkeit, Klarheit, Genauigkeit, Ökonomie. Bei Veränderung des Handlungstyps, z.B. wenn wissenschaftliche Inhalte einer anderen Adressatengruppe (Studierenden, Laien etc.) vermittelt werden sollen, also für sog. fachexterne Texte, gelten teilweise andere Stilprinzipien. So wird in der Fachsprachenforschung häufig zwischen dem theoretisch-wissenschaftlichen, dem populärwissenschaftlichen und dem didaktischen Fachstil unterschieden.
Stilwechsel kommen freilich auch innerhalb von (Fach-)Texten vor. Erwartbar ist dies etwa zwischen verschiedenen Teiltexten (Behandlung eines Beispiels) oder bei Intertextualität (Zitate). Als weniger erwartbar und eher individuell gelten dagegen z.B. der Wechsel der Kommunikationsmodalität (ernst versus scherzhaft), der Stilebene (hochsprachlich versus umgangssprachlich) usw. Stilkonventionen und -erwartungen unterliegen allerdings selbstverständlich historischen Veränderungen, und gerade heutzutage vermutet man zunehmende Nähesprachlichkeit auch in fachlichen Kontexten.
Dazu tragen die technischen Entwicklungen erheblich bei, nicht zuletzt mit den Möglichkeiten, die sich auch ‚Laien‘ bieten, in den öffentlichen Diskurs einzugreifen. Damit wächst zugleich der Druck auf Wissenschaft und Bildungswesen, Politik, Verwaltung und Medien, nicht nur die Zugänglichkeit von Informationen zu erleichtern, sondern auch Partizipation und Dialog zu ermöglichen.
Den damit nur grob angedeuteten verschiedenen Facetten des Phänomens Stilwechsel unter ausgewählten Fragestellungen nachzugehen, war das Anliegen dieses Bandes. Die Beiträge decken eine große Bandbreite von Produzenten-/Rezipienten-Instanzen, Kommunikationsformen, Themen und Ausdrucksmitteln ab:
Der Schwerpunkt liegt auf der Kommunikation im deutschsprachigen Bereich, in zwei Beiträgen kommen aber auch kontrastive Aspekte in den Blick: Während Elisabeth Venohr ein Projekt für grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit unter Studierenden im deutsch-französischen Grenzraum vorstellt, geht Patricia A. Gwozdz am Beispiel der Life Sciences, speziell des prominenten Evolutionsbiologen Richard Dawkins, nationalspezifischen Ausprägungen populärer Wissenschaftskommunikation nach. In einem breit angelegten textsoziologischen Zugriff erläutert sie die Bedeutung der historischen Genese von Denkkollektiven in der Auseinandersetzung mit ‚externen‘ Akteuren wie etwa dem Verlagswesen und dem Buchmarkt. Dabei greift sie auf Bourdieus Konzept sozialer Felder zurück und geht speziell auf den Transfer zwischen verschiedenen Kapitalsorten ein. Während wissenschaftsintern der institutionelle Status zählt, verleiht die gleichzeitige Rezeption außerhalb dieses Feldes intellektuelles Prestige. Dies geht mit der Ausbildung bzw. Umwandlung typisch fachinterner Textsorten, insbesondere dem wissenschaftlichen Artikel, zu neuen Formen einher. An solchen neuen Formen hat man den book-length scholarly essay und die interdisciplinary inspirational monograph identifiziert, die Gwozdz näher vorstellt.
Wenn ein renommierter Wissenschaftler zugleich als Popularisierer auftritt und dabei geradezu neue Textsorten kreiert, widerspricht dies natürlich überkommenen Erwartungen. Dies stellt zwar in diversen sprach- und nationalspezifischen Konstellationen gleichermaßen ein relevantes Faktum dar, wirkt sich allerdings nicht in allen Kontexten auf die gleiche Weise aus. Denn in jedem Fall treffen auch neuere Entwicklungen auf die zweite relevante Schnittstelle zwischen fachinterner und -externer Kommunikation, die Weitergabe des Wissens an den Nachwuchs, d.h. das didaktische Feld. Wie weit hier die Gewohnheiten und Erwartungen selbst in benachbarten Regionen divergieren können, zeigen – gerade im Vergleich zur Untersuchung von Gwozdz – die Ausführungen von Venohr. Auch den Unterrichtenden sind die Unterschiede nicht einmal unbedingt bewusst. Vor allem aber fragt es sich, inwieweit die Anpassung an ‚fremde‘ Üblichkeiten in der ‚eigenen‘ Gemeinschaft überhaupt akzeptiert wird. Diesen Sachverhalt aufgreifend plädiert Venohr im Hinblick auf das Studium in mehrsprachigen Studiengängen für einen Perspektivenwechsel, bei dem sowohl die Textsorten- und Stilkompetenz in der L1-Sprache (unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Wissenschaftskulturen) als auch Cross-cultural-Schreiberfahrungen produktiv genutzt werden. Problematisch erscheint damit die Praxis der präskriptiven zielsprachlichen Produktorientierung, die u.a. Stilwechsel sanktioniert. Diese Umorientierung soll die Entstehung und Entwicklung von mehrsprachigen sowie Cross-cultural-Diskursgemeinschaften begünstigen.
Der Frage, wie man in mehrsprachigen und multikulturellen Kontexten auf Spuren divergenter Konventionen reagiert, noch vorgelagert ist das Problem, wie sich normative Einstellungen zum wissenschaftlichen Stil (und eventuelle Verschiebungen in diesem Bereich) überhaupt eruieren lassen. Diesem Problemkomplex widmen sich Christiane Thim-Mabrey und Maria Thurmair, die ein Projekt-Seminar „Wissenschaftliches Schreiben bewerten“ durchgeführt haben. Nach der Musterung von Stilratgebern und Resultaten vorliegender Befragungen entwickelten die Studierenden selbst einen Fragebogen für Lehrkräfte aus verschiedenen Fächern. Insgesamt lassen die Ergebnisse zwar darauf schließen, dass es gewisse verbreitete Stereotype über Gütemerkmale (Sachlichkeit, Klarheit usw.) und Mängel wissenschaftlichen Stils gibt – nicht zufällig nennen die Autorinnen den Schachtelsatz schon im Titel. Befragungen dieser Art und ihre Auswertung erweisen sich aber methodisch als sehr schwierig. Unverkennbar ist immerhin, dass ein und dasselbe Phänomen zu gegensätzlichen Bewertungen Anlass geben kann.
Zu dieser Einschätzung kommt auch Mikaela Petkova-Kessanlis, die Einführungen in die Linguistik bzw. linguistische Teildisziplinen auf unterhaltsame ‚Attraktivmacher‘ untersucht und damit der These von zunehmender Nähesprachlichkeit im didaktischen Feld nachgeht. Angesichts der Divergenzen in Einstellungen zu stilistischen Charakteristika und Stilwechseln bleibt noch offen, inwieweit der Trend zur Aufweichung rigider stilistischer Normen sich als längerfristige historische Entwicklung durchsetzen wird.
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