„[D]ie Mitglieder von Kommunikationsgemeinschaften [bilden] im Laufe ihrer kommunikativen Sozialisation Erwartungen aus über die Erwartbarkeit bestimmter Stile in bestimmten Kommunikationskontexten. Diese fungieren als Normalformerwartung, von der jedoch zum Zwecke der Nahelegung bestimmten [!] Bedeutungen und Interpretationen jederzeit abgewichen werden kann“ (Selting 2001: 5).
Darauf, dass damit auch Gefahren verbunden sein können, wird üblicherweise meist aus einer eher normativ-ästhetischen Sicht auf Stil und Stilphänomene aufmerksam gemacht; Fleischer u.a. (1993: 66) etwa verweisen im Blick auf Stilwechsel, die sie primär im Zusammenhang mit thematischen Veränderungen sehen, auf „Akzeptanzgrenzen“ und damit auf die Erfahrung, dass auffällige Veränderungen in der Verwendung insbesondere phonetischer, graphematischer, lexikalischer und morphosyntaktischer Elemente (vgl. ebd.: 21) zu stilistischen Fehlleistungen führen können, die rezipientenabhängig u.U. als Stilbrüche oder Stilblüten wahrgenommen werden.
1.3 Stil und Stilwechsel in Wissenschaftstexten
Auch wenn natürlich nicht alle Grammatik-Texte ohne Weiteres dem Kommunikationsbereich und Funktionalstil der Wissenschaft zugerechnet werden können und sich die globale Charakterisierung von Texten als „wissenschaftlich“ als viel zu grob erweist, gehen wir in starker Vereinfachung der im Sprachgebrauch vorhandenen sprachlichen und textsortenbezogenen Differenzierung in der Behandlung wissenschaftlicher Themen von einem durch die „Dominanz der Erkenntnisvermittlung“ (Fix u.a. 2001: 34) geprägten Anspruch in Verbindung mit adressatengerechter Textgestaltung aus. Das entsprechende Spektrum an Texten bedarf aufgrund seiner Heterogenität einer differenzierten Betrachtung der dominierenden Stilelemente und Stilzüge, die – im Zusammenspiel mit textlinguistischen Analysemodellen – als Textsorten‑ oder Textmusterstile erfasst werden können. Aus funktionalstilistisch-textsortenlinguistischer Perspektive ist davon auszugehen, dass verschiedene Stilelemente auf bestimmte Weise kombiniert werden und in ihrem Zusammenspiel im Hinblick auf die wesentliche Wirkungsabsicht funktionalisiert sind.1 Wenn z.B. der Funktionalstil der Wissenschaft durch Stilzüge wie „sachlich, folgerichtig, klar/fasslich, abstrakt, dicht/gedrängt, genau, unpersönlich“ (ebd.: 35, vgl. auch ebd., 75–78) charakterisiert werden kann, besteht die Aufgabe der Textanalyse darin zu überprüfen, in welchem Maße und mit welchen sprachlichen Mitteln solche Stilzüge jeweils realisiert sind: „Die Bestimmung von Stilelementen und Stilzügen bezieht sich immer auf ein ‚Stilganzes‘. Damit ist die Bedingung und Einheitlichkeit des stilbildenden Handelns gemeint“ (ebd.: 35).
Für die konkrete textstilistische Analyse konkurrieren zwar unterschiedliche Modelle und Konzepte mit teilweise unterschiedlichen Auffassungen darüber, welche Texteigenschaften und welche Merkmale der Kommunikationssituation für die Analyse berücksichtigt werden sollen (vgl. für einen Überblick ebd.: 52–56), in der grundlegenden Auffassung herrscht jedoch Einigkeit:
„Die bei der Analyse eines Textes ermittelten Stilzüge konstituieren den Stildes Textes, also die Art und Weise (das WIE), mit der das Mitzuteilende (das WAS) im Hinblick auf einen Mitteilungszweck (das WOZU) [und, so muss man ergänzen: im Hinblick auf die Adressatengruppe (das FÜR WEN)] – gestaltet wird“ (Fix u.a. 2001: 52; Hervorhebungen im Orig.).
Dass die Ausrichtung auf die jeweilige Adressatengruppe – bei mehr oder weniger konstanter Wirkungsabsicht – einen wichtigen Faktor für die gestalterischen Entscheidungen des/der Textproduzenten darstellt, liegt auf der Hand (vgl. dazu z.B. Biere 1996; Becker-Mrotzek u.a. 2014) und ist empirisch ohne großen Aufwand zu belegen (vgl. z.B. Eroms’ [2008: 119–121] kurzen Vergleich von Texten, die zum einen für Angehörige der Fachgemeinschaft bzw. Experten, zum anderen für ein breiteres Publikum bzw. Laien konzipiert sind und die jeweils typische, aber einheitlich eingesetzte stilistische Mittel aufweisen).
Vor diesem Hintergrund sind intendierte Stilwechsel in Wissenschaftstexten, die für einen breiteren und eventuell fachlich (noch) nicht versierten Adressatenkreis konzipiert sind (populäre Fachtexte und Sachprosa), eher bzw. in anderer Weise erwartbar als in Wissenschaftstexten, die sich dezidiert an ein Fachpublikum richten (Fachtexte). Diesen an sich naheliegenden Zusammenhang bestätigen die Analyseergebnisse von Petkova-Kessanlis (2017) zur wissenschaftlichen Textsorte „Einführung“ (in ein bestimmtes linguistisches Gebiet): Der Einsatz von Stilwechseln dient der sozialen Differenzierung, da der Textproduzent von Einführungen nicht in erster Linie als Teil der Wissenschaftlergemeinschaft agiert, sondern darum bemüht ist, eine „Nähe-Beziehung“ (ebd.: 179) zur Adressatengruppe der Studierenden herzustellen, d.h. den Wissenstransfer den Rezeptionsmöglichkeiten einer Zielgruppe mit geringerem Wissensstand anzupassen (vgl. ebd.). Man kann darüber streiten, ob solche Stilwechsel wirklich zum Textmuster(wissen) linguistischer Einführungen gehören, wenn sie aber auftreten, weichen die Texte spürbar vom üblichen Wissenschaftsstil (mit dort beobachtbaren konventionellen Stilwechseln wie z.B. auf bestimmte Art und Weise Zitieren oder Exemplifizieren) ab; anhand ausgewählter Beispiele stellt Petkova-Kessanlis (ebd.: 181–186) als einführungs-typische Stilwechsel das Zitieren (auch aus nicht-wissenschaftlichen Texten), das Markieren von Übergängen und von Wechseln zwischen Alltagssprache und Fach‑/Wissenschaftssprache (z.B. bei der Einführung neuer Termini) als Realisierung des Musters Akademischmachen, das Simplifizieren (Reduktion von Fachsprachlichkeit durch geringere semantische und syntaktische Komplexität), das Dialogisieren, das Wechseln der Interaktionsmodalität und das Wechseln der Stilebene (insbesondere zugunsten umgangssprachlicher Ausdrücke) heraus.2 Generell kann man in solchen – meist allerdings nur sporadisch verwendeten und dadurch umso auffälligeren – Stilwechseln aufmerksamkeitssteigernde und durch das Anschaulich‑ und Lebendigmachen von Inhalten rezeptionsfördernde und verständniserleichternde Strategien sehen und sie als Phänomene des Übergangs von einem fachwissenschaftlichen zu einem fachdidaktischen Stil verstehen.
1.4 Textmuster‑ und Stilwandel
Fasst man wissenschaftliche Darstellungsformen wie Einführung bzw., allgemeiner, Monographie als Textsorten auf, lässt sich aus den Anforderungsprofilen mehrdimensionaler bzw. holistischer Modelle für die Untersuchung von Textsorten ableiten, dass auf der Ebene der Formulierung bzw. Formulierungsadäquatheit u.a. auch die stilistischen Handlungsmuster relevant sind, soweit sie für den Handlungstyp charakteristisch sind (vgl. etwa Sandig 2006: 489); sie gehören zum Textmuster(wissen) und zeichnen – bei konventioneller Textgestaltung – die Exemplare der jeweiligen Textsorte insofern als prototypisch aus, als sich auf der Ebene der Formulierung Musterhaftes zeigt: Dazu zählen neben typischen lexikalischen Mitteln und syntaktischen Strukturen auch Formulierungsmuster und Gestaltungsweisen, kurz: alle für die Textsorte charakteristischen sprachlichen Mittel und Strukturen, „die zusammen den charakteristischen Stil eines Textmusters ausmachen“ (ebd.: 499). Die damit bei Sandig (ebd.: 481 u. ö.) als „Textmusterstil“, in sonstiger textlinguistischer Tradition meist als „Textsortenstil“ bezeichnete Ebene meint den „charakteristische[n] Zusammenhang von Handlungsbereich, Sprecher/Rezipient(‑Beziehung), Kanal, evtl. Medium, Handlungsqualitäten und Sequenzpositionen einerseits mit Formulierungseigenschaften andererseits“ (Sandig 1996: 363). Dieser Zusammenhang stellt deswegen eine wesentliche Facette der Beschreibung von Textsorten dar (vgl. dazu z.B. Krieg-Holz 2017), weil (nur) dabei der Spielraum für die zwischen Typisieren und Unikalisieren changierende Gestaltung einzelner Textexemplare fassbar wird und weil er eine geeignete Angriffsfläche für die Beschreibung und Erklärung des Wandels (sprich: der Historizität) von Textmustern bzw. Textsorten bietet. Insofern kann auch im Hinblick auf die Ebene der Formulierungsadäquatheit von „Stilwandel“ gesprochen werden, d.h. von einem „Textmusterwandel mit der je konventionellen Variationsbreite bei der Musterrealisierung“ (Sandig 1996: 370) infolge veränderter soziokultureller Bedingungen.
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