1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Sie saßen eine Weile wortlos zusammen, an diesem stillen Maiabend. Alles um sie her war jetzt so schön. Grüne Keimlinge und ganz kurzes Gras, das aus dem Boden lugte und so gern leben wollte.
„Gibt es einen eigenen Wolfshimmel?“ fragte sie.
Ihr fiel auf, daß er nicht sofort antwortete.
„Nein“, sagte er dann entschieden. „Die Wölfe kommen in denselben Himmel wie wir.“
„Auch Wolfsrudel? Die aus den Bergen?“
„Ja, auch Wolfsrudel. Im Himmel sind sie zahm, verstehst du, genau wie Hektor das war.“
„Aber nur die Seele ist da oben. Sein Fell mußt du als Mantel nehmen.“
„Was?“
„Ja. Du brauchst einen warmen Pelz, wenn du ins Dovregebirge fährst. Das sagt Mutter.“
Er erstarrte. Hektor als Mantel zu nehmen, kam ihm vor, wie aus einem Hund einen Bettvorleger zu machen.
„Meinst du wirklich?“ fragte er.
„O ja!“ sagte sie. „Er wird sich da oben so freuen, wenn er das sieht!“
„Meinst du wirklich, Knöpfelchen?“
„Ja.“
Eine tiefe, unerklärliche Wärme breitete sich in ihm aus. Er drückte das Kind an sich und ließ sein Kinn auf ihrem Köpfchen ruhen. Noch am selben Tag schickte er einen Boten zu dem Schneehuhnjäger, der Hektor noch nicht verkauft hatte, und ließ sich den Pelz mehrerer Tiere bringen, das reichte für einen knöchellangen Wolfsmantel. Auf diese Weise sollte der Wolf Hektor den Lensmann bis an dessen irdisches Ende begleiten.
Jon Mjøen spielte mit dem Gedanken, in Kristiania sein juristisches Staatsexamen abzulegen. Bisher hatten alle Examensprüfungen in lateinischer Sprache stattfinden müssen, seit neuestem jedoch war auch Norwegisch erlaubt. Ein neues, liberaleres Strafgesetz wurde ausgearbeitet, große, wichtige Reformen standen bevor, über die er sich informieren mußte. Seine Frau ermunterte ihn zu diesem Entschluß, sie wollte mit ihm in die Hauptstadt gehen. Er behauptete, Zeit für sich zu brauchen, er mußte schließlich büffeln. Ein etwas unangenehmer Wortwechsel endete damit, daß er das erste Jahr dort allein verbringen sollte, im folgenden Herbst würde er seine Familie holen kommen.
„Und dann holst du nicht drei, sondern vier“, sagte Helene. Er starrte sie an. „Bist... bist du in Hoffnung?“ fragte er dumm. „Ja“, antwortete sie. „Und mach jetzt kein Gesicht, als ob du damit nichts zu tun hättest.“ Er machte trotzdem weiterhin ein dummes Gesicht. Er freute sich über die Maßen. „Aber... ich meine... wann ist es denn soweit?“ Sie sagte, vermutlich im September, denn sie glaubte, das Kind um die Weihnachtszeit empfangen zu haben. „Am Heiligen Abend?“ rief er.
Sie tauschten leicht verlegene Blicke. Dann prusteten sie los. Sie wußten noch genau, wie sie die Heilige Nacht begangen hatten, nachdem die Kerzen gelöscht worden waren. Augusta und Hansemann kamen angestürzt. „Warum lacht ihr? Warum lacht ihr?“ Sie erklärten, daß ein neues Kind erwartet werde.
Und das sollte witzig sein? Wunderbar war das. Aber witzig? Wieder lachten die Erwachsenen über etwas sehr, sehr Ernstes. Ein neues Kindchen? Ein Schwesterchen oder ein Brüderchen? Und das war ein Grund zum Grinsen? Augusta mußte fragen. Die Eltern kicherten wie die Backfische und sahen auf ihre Kinder hinab. „Nein, wir haben gelacht... hm... hm, weil... nein... nein, es war am Heiligen Abend, und... nein, das versteht ihr nicht, Kinder, wir erklären es euch, wenn ihr erwachsen seid.“
„Dann müssen wir aber schrecklich lange warten, nur um einmal lachen zu können“, sagte Augusta empört.
Über diese Beschwerde lachten die Erwachsenen noch heftiger. Und zehn Monate später traten alle Bewohner von Oppdal vor ihre Häuser und winkten. Nicht jeden Tag verließen so hochgestellte Personen die Gegend für ein ganzes Jahr. Sie standen am Königsweg und winkten und lächelten. Viele waren von weither gekommen, um sich zu verabschieden. Mjøen war jetzt candidatus juris, und sein Bruder Even vertrat ihn als Lensmann. Alle wünschten ihm eine gute Reise. Die Lensmannsfamilie winkte zurück. Jon Mjøen trug Uniform, die anderen neue Reisekleider. Augusta lächelte allen voller Stolz zu, sie wurde bald sieben, der fünfeinhalbjährige Hansemann saß neben ihr, die neugeborene Fredrikke hatte die Mutter auf dem Schoß. Und alle konnten sehen, daß schon das nächste Kind unterwegs war. Die Rückkehr des Lensmanns um die Weihnachtszeit hatte Früchte getragen.
„Ja, ich habe das ja schon damals zu Frau Bjørnson gesagt, als sie Peter erwartete und fast mitten in der Familiengeschichte niedergekommen wäre, daß schwangeres Vieh geschont wird, aber bei Frauenzimmern es ganz anders zugeht“, sagte Helene. Der Lensmann sagte nichts dazu. Sie hatte ja unbedingt mitkommen wollen. Entweder komme sie mit, hatte sie gesagt, oder er solle sich nicht darauf verlassen, sie bei seiner Rückkehr noch vorzufinden. Wenn er allein fuhr, welche Garantie hatte sie dann, daß er sich nicht nach Amerika absetzte? Das schien unter den Mannsbildern doch die neue Mode zu sein. Auch dazu hatte er nichts gesagt. Tatsache war, daß dieser Gedanke ihm schon gekommen war, es war schließlich so häufig von dem grünen Land dort drüben die Rede, aber natürlich würde er solche Gedanken niemals in die Tat umsetzen. Wie sie ihre Drohung, einfach zu verschwinden, ausführen wollte, blieb unklar. Woher sollte sie die nötigen Mittel nehmen? Manchmal sagte sie wirklich ziemlich wirklichkeitsferne Dinge. Aber er wollte sich nicht mit ihr streiten, schon gar nicht, während sie auf der Hauptstraße durch das Dorf fuhren und alle lächelten.
„Ich kann nur sagen, daß du noch nie so schön warst“, sagte er schließlich.
Das wirkte. „Ich komme mir vor wie eine Kuh in Seenot“, sagte sie geschmeichelt.
Augusta trug eine neue Schürze und neue Schuhe und betrachtete die dunkelgelben Kornfelder. Sie wußte nicht immer, ob die Eltern sich stritten oder scherzten. Wichtig war zumeist der Tonfall, nicht die Worte. Sie verstand jetzt die meisten, und sie konnten entsetzliche Dinge bedeuten, doch der Tonfall konnte ihnen auch einen angenehmen Sinn geben. Wie jetzt, wo von der Kuh in Seenot die Rede war. Sie sah die Kuh vor sich. Sie brüllte verzweifelt in den Wellen, während hinter ihr ein Boot unterging. Kam die Mutter sich wirklich so vor? Sie sagte das mit so munterer Stimme.
Augusta vertiefte sich in den Anblick des Korns. Dieses Jahr stehe eine gute Ernte bevor, hatte Guri gesagt. Eine bessere als seit vielen Jahren. Es war ein warmer Sommer gewesen, sie hatten Mitte April mit Pflügen beginnen können, es war fast schade, das alles verlassen zu müssen. Aber sie freute sich auf Kristiania und stellte sich Schlösser mit hohen Türmen und Paraden von Soldaten in roten Uniformen und Damen in Seidenkleidern und einen König und eine Königin mit Goldkronen auf dem Kopf vor, die funkelten, während die Blasmusik erklang.
Der Lensmann fand für sich und seine Familie Unterkunft auf Jacobsens Koppel, in deren Nähe das neue Schloß gebaut wurde. Sie wohnten auf dem Plateau gegenüber von dem Haus, das Grotte genannt wurde, weil es dort im Felshang eine Grotte gab.
Jacobsens Koppel war ein wunderbarer Ort für Kinder. Es gab Felder und Wiesen, nirgendwo stand ein Lattenzaun, sie konnten überall herumtoben, und Augusta, die bald in die Schule kam, hatte nur einen kurzen Weg, den Hang hinab bis zu Fräulein Osterhaug in der Kongens gade. Es war ein schöner Spaziergang, sie konnte rechts weit, weit über den Fjord hinwegblicken, und vor ihr lag die ganze Stadt mit dem Tivoligarten und der Festung Akershus und dahinter dem dunkelgrünen Berg Ekebergåsen und den vielen Häusern unten an den geraden Straßen. Oben vor dem Schloß mußte sie an einer bestimmten Stelle immer stehenbleiben und schauen. Menschen hasteten vorüber. Niemand kannte sie. Niemand sagte guten Tag. Niemand wußte, daß hier Augusta Mjøen kam, oder fragte, wo sie denn hinwolle, wie das zu Hause gewesen war.
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