„Schon möglich, aber das Gesetz gilt seit den Zeiten Magnus Lagabøters“, sagte Jon. „Ja, der hat sich vermutlich auch auf Kosten seiner Schwestern bereichert“, meinte sie. „Aber du hättest seinen Zorn nicht so anstacheln dürfen.“ – „Wessen Zorn? Den von Magnus Lagabøter?“ Jon mußte lachen. „Nein, den von Bjørnson natürlich.“ – „Ich wüßte ja gern, wie man sich verhalten soll, um seinen Zorn nicht anzustacheln“, sagte sie. „‚Die Wahrheit!‘ sagt er. Aber die will er doch selber gar nicht hören!“ Wieder mußte Jon in die Dunkelheit hineinlächeln. „Nein, wer will das schon?“ seufzte er und streckte die Hand nach ihr aus. Er war müde, und sie war behaglich und warm. Und jetzt wollte er sie, trotz ihrer scharfen Zunge. Oder vielleicht wegen ihrer scharfen Zunge. „Aber den Hof hat er verkauft, weil er sich in eine verliebt hatte, die nur einen Pastor heiraten wollte, und danach hat sie ihn verlassen.“ – „Sie hat ihn verlassen? Ich dachte, sie sei gestorben!“ – „Nein, das war eine andere. Er hat sich doch bei jedem Vollmond verlobt.“ – „Jetzt übertreibst du aber ein bißchen.“ – „Ich übertreibe? Dann frag ihn doch selber!“
Damit endete das Gespräch und ging über in ein wortloses körperliches Beisammensein, in dem keine Mißstimmung zu spüren war.
Frau Bjørnsons Wehen legten sich bald wieder. Deshalb konnten sie unbesorgt ihre Reise nach Nesset wie geplant fortsetzen. Niemand kam noch einmal auf das am Palmsonntag geführte Gespräch zurück, und als die Pastorenfamilie sich am Kardienstag auf den Weg machte, waren alle in bester Laune.
„Das war der Pastor!“ sagte der Schmied unten im Laden, wo er mit einigen anderen Dorfbewohnern stand, obwohl der Laden in der Karwoche geschlossen war. Aber hier, mitten im Ort und an der Wegkreuzung, hatten sie sich immer getroffen, auch ehe es den Laden gegeben hatte, um Neuigkeiten auszutauschen. „Die war ja schon ganz schön weit gediehen, die Pastorin – gut, daß es bergab geht“, sagten sie und grinsten. Aber der Schmied sagte, vorn neben dem Pastor habe nicht die Pastorin gesessen, sondern die Magd.
Darüber mußten sie erst einmal nachdenken. Aber schön rund war sie wirklich, die Magd, das hatten sie gesehen, als sie mit dem Pastor und dem ältesten Sohn im Langschlitten gesessen hatte. „Ja, die kriegen eben immer ihren Willen, die großen Herren“, erklärte der Schmied. Er trank einen kleinen Schluck aus einem Krug, den er mitgebracht hatte, und ließ den Schnaps weiterwandern.
Kurz nach diesem Besuch passierte etwas sehr Trauriges. Der kleine Frederik Trampe war abends eingeschlafen, und nichts deutete an, daß ihm etwas fehlen könnte. Sein ganzes kurzes Leben lang war er ein gesunder, munterer Junge gewesen. Aber am nächsten Morgen lag er leblos in seiner Wiege. Marithe Bryggjom wurde geholt. Die Hebamme wußte in solchen Fällen normalerweise Rat. Marithe hob ihn hoch und untersuchte ihn, sie versuchte, seinen kleinen Körper zu massieren, hauchte Atem in seinen Mund, aber alles half nichts. Schließlich mußte sie aufgeben. Aber wie hatte das passieren können? Die anderen konnten es nicht glauben, die Trauer kam erst später.
Doch, das komme vor, erklärte Marithe, auch wenn sie noch nie einen solchen Fall erlebt hatte. Manchmal starben kleine Kinder ohne irgendeine erkennbare Ursache einfach so in der Wiege. Manche meinten, sie hätten vielleicht falsch gelegen und wären dabei erstickt. Andere glaubten, Gott habe sie zu sich geholt – und es handele sich um besonders begünstigte Kinder. Es sei auf jeden Fall ein Zeichen, da war Marithe ganz sicher.
Die anderen konnten das nur schwer hinnehmen. Es war ein Todesfall, der auf irgendeine Weise gar nicht eingetreten war. Und alle machten sich Vorwürfe, weil sie nachts nicht über ihn gewacht hatten. Hatte Gott ein Zeichen gegeben, um sie zu warnen, daß der Kleine in Gefahr schwebte? Sie gingen die vergangenen Tage durch und fanden Omen, die sie nicht gedeutet hatten – einen plötzlichen Windstoß, einen besonders leuchtenden Sonnenuntergang, zwei Raben, die schreiend gen Norden flogen. Die Magd Guri war außer sich. Die Kuh Gullrosa war am Vorabend im Stall so unruhig gewesen. Warum hatte Guri nicht begriffen, daß der Herrgott durch das Tier gesprochen hatte? Alle auf dem Hof weinten. Sogar die Tiere schienen zu trauern, und Hektor fiepte und wollte zu dem Kleinen ins Zimmer.
Augusta stand vor der Wiege und staunte. Sie konnte nicht begreifen, warum er nicht aufwachte, wenn jemand sein Händchen anfaßte. Aber sie sah ja, daß er leblos vor ihr lag. Und dann spürte sie die Arme ihres Vaters. er hob sie hoch und trug sie in die Stube, und dabei sang er langsam und ohne Worte.
„Unser Kleiner kommt jetzt in den Himmel“, flüsterte er. „Wie macht er das?“ fragte sie leise. „Er bekommt kleine Engelsflügel“, erklärte der Vater. „Aber kann er denn schon fliegen? Er hatte doch noch nicht einmal laufen gelernt“, fragte sie überrascht. „Ja, jetzt ist er ein Engel, und er kann fliegen, so klein er auch ist.“ Darüber dachte sie eine Weile nach. „Aber er liegt doch immer noch in seiner Wiege?“ fragte sie dann und wollte vom Schoß ihres Vaters springen und wieder nach ihrem Brüderchen sehen. Der Vater hielt sie zurück. „Ja, er liegt noch immer in der Wiege. Aber das ist nur sein Körper. Seine Seele hat den Körper schon verlassen. Und sie hat jetzt Flügel.“ – „Ach!“, sagte Augusta. „Kann er sich deshalb nicht bewegen?“ – „Ja“, antwortete der Vater.
Er wärmte ihre Füßchen in seinen breiten Händen. Ihre Strümpfe waren feucht, er zog sie ihr aus und rieb ihre bloßen Füße. Dann nahm er ihren großen Zeh und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger fest. „Zeh-Zehe“, sagte er. Es kitzelte. Sie keuchte vor Entzücken, zog den Fuß zurück und streckte ihn dann wieder vor. Ihr Vater wandte sich dem nächsten Zeh zu. „Zehzille“, sagte er und kniff hinein. Sie lachte. Wollte seine Hand wegschieben, es kitzelte so, aber es war auch witzig, und deshalb ließ sie ihn weitermachen. „Zählerosa“, sagte er und hatte schon den mittleren Zeh erwischt. Augusta schaute ihre Zehen an. Die sahen aus wie kleine Menschen. So seltsam und unterschiedlich – jeder mit seinen kleinen Gedanken über das, was jetzt passieren würde. Jetzt wartete der Zweitkleinste. Er krümmte sich und freute und gruselte sich zugleich, als der Vater danach griff. „Knöpferosa“, sagte der Vater und schüttelte den Zeh so lange, bis der begriffen hatte, daß er Knöpferosa hieß. Und schon hatte der Vater den kleinen Zeh erwischt und schüttelte ihn herzlich. „Und das kleine Knöpfelchen“, sagte er.
Jetzt lachten sie beide laut. Das war wirklich das Allerwitzigste. Daß der Vater beim kleinen Knöpfelchen ankam. Sie legte ihm die Arme um den Hals und streichelte immer wieder seinen kurzen Kinnbart. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. „Darf ich das mal bei dir probieren, Vater?“
Der Lensmann zog Stiefel und Strumpf aus und legte sich aufs Sofa. Seine Zehen waren so groß und viel dicker als ihre Finger, aber energisch packte sie den größten, schüttelte ihn gründlich und sagte: „Zeh-Zehe.“ – „Ooooo! Ho, ho, ho“, der Lensmann lachte laut. „Zehzille“, sagte Augusta. „Runter mit dir, Fuß“, befahl sie dann. Der Fuß gehorchte. „Zählerosa“, sagte sie glücklich und streng und schnappte sich den mittleren Zeh. „Knöpferosa! Und das kleine Knöpfelchen!“ rief sie und schüttelte den riesigen kleinen Zeh ihres Vaters aus Leibeskräften. Gleich darauf lag sie in seinen Armen auf dem Sofa, und sie lachten und lachten, weil es so schrecklich gekitzelt hatte. Doch dann trat die Mutter in die Tür. Sie blieb dort stehen und musterte die beiden.
„Ihr lacht?“ fragte sie.
Der Lensmann stellte Augusta auf den Boden und setzte sich auf. Er gab keine Antwort. Die Mutter blieb stehen. Wartete auf Antwort. Augusta wagte nicht, sich zu bewegen.
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