Sammys Wunsch, ihn selbst mit Rücksicht auf seine Freunde und Anverwandten anonym zu behandeln, bin ich selbstverständlich nachgekommen. Er wird deshalb durchgehend lediglich als Sammy Kater bezeichnet. Warum diese Anonymität für alle anderen Protagonisten nicht gelten soll, ist mir zwar schleierhaft, aber im Grunde egal. Die Hoffnung, Pelztiere irgendwann erschöpfend verstehen zu können, habe ich schon lange aufgegeben.
Carsten Wunn, im Januar 2020
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Aufbruch ins
Westfälische
Als Sammy Kater seinen Geburtsschrei tat, lag die erste Lebenskrise bereits hinter ihm. Der Überlieferung nach hatten seine Eltern mit dem Thema «Niederkunft der Mutter» nach sieben Neugeborenen aufgrund eines der Hektik geschuldeten Rechenfehlers bereits abgeschlossen, als der Vater bei einem routinemäßigen Blick auf den Bauchraum seiner Gattin ein weiteres, vorsichtig aus dem Leib der Mutter lugendes Köpfchen entdeckte. Die Begeisterung soll sich in Grenzen gehalten haben, doch man tat, was getan werden musste, und Sammy erblickte endgültig das Licht der Welt, wenn auch noch halb blind, wie es nun mal das Schicksal von neugeborenen Katzenbabys ist.
In puncto Wertschätzung setzte sich sein Leben genauso fort, wie es begonnen hatte. Lange nachdem seine Geschwister so beliebte Vornamen wie Annabelle, Fredegar oder Godewind bekommen hatten, war er auch in dieser Hinsicht als Letzter an der Reihe. Da seine Eltern ihr Pulver nach sieben Kindern verschossen hatten und in dieser Frage immer stärker zur kompletten Lustlosigkeit tendierten, wählten sie eine besonders gleichgültige Methode, um die Namensgebung ihrer Kinder abzuschließen. Die Mutter schaute eines Morgens in die zufällig aufgeschlagene Zeitung, schloss die Augen, ließ die rechte Pfote kreisen, senkte sie im Blindflug auf das Papier und landete auf dem Werbeslogan einer Wäscherei, die mit dem Spruch «Sammy schäumt den Kragen auf» warb. Eine Anekdote, die auf Familienfeiern immer wieder unter herzhaftem Gelächter der Anwesenden erzählt wurde und nicht im Entferntesten dazu angetan war, Sammy seinen Namen und seinen Stand in der Familie angenehmer zu gestalten.
Auch in der Pelztiergrundschule litt der kleine Sammy darunter, dass sich die Entstehungsgeschichte seines Namens aufgrund der offensiven Informationspolitik seines Bruders Fredegar sofort nach der Einschulung verbreitet hatte. Ganz anders erging es seinen Geschwistern. Sie hoben sich kraft ihrer Namen geradezu majestätisch von der Masse ab. Sammy dagegen wurde durch die unselige Geschichte von Anfang an zum ungewollten Außenseiter, obwohl der Name selbst durchaus gebräuchlich war. Das Schlimme war seine lieblose Entstehung, die sich fatal auf sein Selbstbewusstsein auswirkte.
Abgesehen von einer ausgeprägten, von Sammy selbst geteilten Hannover-96-Affinität seines Vaters waren seine Eltern eher konservative Tiere, die großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder legten. Beide arbeiteten in Festanstellung als Hauskatzen der Tierärztlichen Hochschule in der Leinestadt. Auf deren Gelände wuchsen ihre Kinder zwanglos unter Akademikern auf. Ohne Probleme durchliefen alle die Grundschule und besuchten anschließend die nahegelegene Pelztieroberschule am Braunschweiger Platz.
Ob es nun an seinem Namen und der daraus entstandenen Rebellion gegen das Elternhaus lag oder daran, dass er der Jüngste war: Sammy begann zu schwächeln. Anstatt fleißig fürs Leben zu lernen, lümmelte er lieber den ganzen Tag auf seinem geliebten Kratzbaum herum, zog mit den Kumpels um die Häuser oder schaute Spiele von Hannover 96 im Stadion an. Für Pelztiere war es nicht schwer, sich unerkannt durch die Zäune zu zwängen und aus sicherer Entfernung dem Spektakel beizuwohnen.
«Sammy», sagte ihm sein Klassenlehrer mehr als einmal, «du bist begabt. Ich bin sicher, dass du den Abschluss irgendwie schaffst. Aber wenn du nicht bald zu lernen beginnst, wirst du in Hagen-Haspe studieren müssen – für mehr reichen deine Noten dann nicht! Kann das wirklich dein Anspruch sein?»
Hagen-Haspe!
In Pelztierkreisen das reinste Schreckgespenst.
Zu den renommierten und erstrebenswerten Studienorten zählten eher Städte wie Bückeburg, Peine oder Haltern am See. Wer ganz großes Glück hatte, landete auf den Eliteuniversitäten in Zella-Mehlis oder Müden an der Örtze. Absolventen dieser Häuser hatten ihre berufliche Zukunft gesichert. Doch davon war Sammy weit entfernt. Man drohte ihm mit Hagen-Haspe! Dabei strebte er durchaus eine akademische Laufbahn an, denn neben Fußball und Feiern hatte es ihm das Gebiet der Kratzbaumtechnik angetan. Wenn es ein Lebewesen auf dieser Erde gab, das sich mit Kratzbäumen auskannte, dann Sammy. Sein kleines Zimmer im Bereich des elterlichen Wohntraktes auf dem Gelände der Tierärztlichen Hochschule zierten keine Poster von Popstars, sondern Bilder von besonders originell konstruierten Kratzbäumen aus aller Welt. Schon früh begann er, selbst eigene Kratzbäume zu konzipieren und zu bauen, wobei er äußerst geschickte Pfoten bewies und in diesem Bereich als förderungswürdiges Talent auffiel. Aber wollte er sich in dieser Disziplin verwirklichen, musste er studieren. Daran führte kein Weg vorbei. Das hätte ihm Motivation genug sein können, was aber nicht ansatzweise der Fall war.
«Wusstest du, dass sämtliche Dozenten in Haspe einmal dorthin strafversetzt worden sind?», fragte ihn seine weitaus erfolgreichere und um ihren Bruder sehr besorgte Schwester Annabelle eines Tages. «Die Studenten sind alle auf Krawall gebürstet, dauernd gibt es Streit und Schlägereien auf dem Campus. Und die FH Hagen-Haspe ist sogar für Nagetiere geöffnet! Stell dir das mal vor: ein Hörsaal voller Biber, Hamster und – wenn es ganz dumm läuft – Stachelschweinen und Bisamratten! Alle tragen rote Pullover mit blauen Cordhosen als Einheitskleidung, und die Schule ist super-autoritär geführt. Mit Strafexerzieren bei Fehlverhalten. Noch nie hat ein Absolvent der FH in Hagen-Haspe anschließend einen vernünftigen Job bekommen. Sammy, wach auf! Ich weiß das aus sicherer Quelle! Willst du wirklich einmal dort landen?»
«Warum nicht?», hatte Sammy damals mehr im Trotz geantwortet, «ich mag Nagetiere. Ich kenne einige, und die sind alle ganz in Ordnung. Das sind alles nur Gerüchte. Fake News. Wieso gibt es diese Fachhochschule überhaupt, wenn dort sowieso alle unbegabt, begriffsstutzig, undiszipliniert und faul sind? Könnten solche Aussagen nicht eher mit Neid oder Konkurrenzdenken zu tun haben? Die Personalquote im Verhältnis zu den Studierenden ist jedenfalls unschlagbar.»
Annabelle sah ihren Bruder in einer Mischung aus Entsetzen und Besorgnis an. Wie eine grüne Ortsvorsitzende, deren Neffe das Klima leugnet.
Sammy fuhr fort: «Ich glaube euch kein Wort. Ein Rauhaardackel aus der Nachbarschaft hat dort studiert. Er sagt, das wären reine Gerüchte, die Haspe unmöglich machen sollen, weil sie neue, speziesübergreifende Wege gehen. Weg von der artenspezifischen Hochschule. Er sagt, dass unter wirklich innovativen Tieren gerade der Studiengang Kratzbaumtechnik als Vorreiter neuer Lehrmethoden gilt. Auch wegen des hohen Praxisanteils. Der Rektor, Professor Doktor Doktor Doktor Dankwart Dösig …», an dieser Stelle sprach Sammy betont langsam und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen, «gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet. Ich will auf vernünftigem Niveau Kratzbaumtechnik studieren. Da gehe ich gerne nach Hagen-Haspe! Ich bin ein Praktiker. Elite ist etwas für Leute wie dich!»
Nach diesem Gespräch wandte sich Annabelle ab und beschloss, diesem störrischen Bruder ihre Besorgnis nicht mehr mitzuteilen.
Auf Dauer kam es, wie es kommen musste: Sammy gelang im zweiten Anlauf die Pelztiermatura, doch mit einem Notenschnitt von drei Komma fünfundsiebzig hatte er alles andere als freie Wahl, was den Studienort betraf.
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