„Na ja, Robertchen, geh man!“ seine Mutter begleitete ihn bis zur Tür. „Und arbeite auch nicht zu lange mehr, hörst du? ... Er überanstrengt sich immer, der arme Junge, da kann man reden, was man will!“ sagte sie, an den Tisch zurückkehrend, nachdem sie selbst die Tür hinter ihrem Sohne geschlossen hatte. Und während ihr Benehmen vorher etwas Gedrücktes, unter einer übertriebenen Liebenswürdigkeit verborgen. Ängstliches gehabt hatte, schien sie nun auf einmal befreit und froh, wie wenn die Anwesenheit ihres Sohnes sie sehr geniert hätte.
Klaus Mathiessen merkte das wohl. Und ehedem hätte diese Veränderung im Wesen seiner Frau ihn misstrauisch gemacht und irgendeine Szene ahnen lassen — heut, zu dieser Stunde war ihm das ganz gleich.
Wahrscheinlich führte sie wieder etwas im Schilde, wovon Robert jedenfalls nichts hatte wissen sollen ... Oder es war auch nur die Erhöhung der Versicherungssumme, die sie dem Sohne natürlich verschwiegen hatte ... Gleichviel! Klaus Mathiessen lächelte! Er konnte jetzt lächeln über all den schmutzig verlogenen Kram, der ihn hier umgab ... Er war darüber hinausgewachsen, weit, weit! ... Nicht an seine Schuhe reichte die Welt, in der diese Frau lebte, mehr heran!
Der Agent fing unterdessen eine Unterhaltung an mit Mathiessen, er sprach über die Wahlen:
„... Wir rechnen natürlich damit, d .. d .. d .. dass Sie uns helfen, Herr Ma .. ma .. ma .. Mathiessen! Nich wahr, d .. d .. d .. d .. das ist doch selbstverständlich?“
Der Lehrer ertappte sich dabei, dass er dem anderen fortwährend auf die Lippen blickte und ihn so zum Stottern brachte. Er sah weg, und nun floss die Rede des Agenten gleichmässiger ... Mathiessen selbst besass die wundervolle Gabe, zuzuhören und nicht eher zu antworten, als bis er sich genau überlegt hatte, was er sagen wollte ... Hier dachte er nun gar nicht daran, sich irgendwie festzulegen. Er interessierte sich für die Aussichten, die die einzelnen Parteien bei der Wahl hatten, hielt sich klug in der Reserve und beobachtete dabei mit geheimer Schadenfreude seine Frau, die unruhig auf ihrem Sofaplatz umherrutschte und offenbar ganz andere Schmerzen hatte, als die nahe bevorstehende Stadtverordnetenwahl.
Endlich hielt sie’s denn auch nicht mehr aus und griff nach ihrer wenig rücksichtsvollen Art mitten hinein in die Unterhaltung:
„Wie is es denn nu mit den Policen, Herr Küper?“
Der sah die Frau listig von der Seite an.
„Die habe ich bei mir, Frau Mathiessen, die hab’ ich hier!“
Er zog ein Kuvert aus der Tasche seines weiten, braunen Jacketts und wandte sich an Mathiessen.
„Ich habe ja Ihrer Frau meine Bedenken nich vorenthalten, lieber Herr Mathiessen; aber ich denke, weil sie doch sagte, dass es auf Ihren besonderen Wunsch wäre ... nich wahr, Herr Mathiessen?“
Der Lehrer blickte gross auf, und sofort fing bei seinem Gegenüber die Sprache wieder zu stolpern an:
„N .. n .. n .. na, nich wahr. Frau Mathiessen, wir haben doch l .. l .. l .. l .. lang und breit darüber gesprochen?“
Die Frau nickte nur bedeutungsvoll und sah dann ihren Mann wie in still lächelndem Vorwurf an, dass er den armen Herrn Küper wieder so fixierte.
Mathiessen, ganz perplex, erwiderte ihren Blick.
Der Agent kam, unbeachtet, auch besser vorwärts.
„I .. i .. ich hab’s ihr ja gesagt, Ihrer Frau, Herr Mathiessen, die Summe ist eigentlich so schon hoch genug, ... aber Sie, Herr Mathiessen, Sie sind ja doch’n verständiger Mann ... wenn Sie’s für recht halten und ’s sogar selber beantragen ... dann ... n .. n .. n .. natürlich, dann muss ich’s doch machen!“
Der Lehrer sah stumm vor sich nieder ... Er? ... Er hatte das gewollt? ... Natürlich! Er hatte ja selbst den Antrag auf Erhöhung der Police gestellt, hatte die Formulare selbst hingebracht zu dem Agenten! ... Ein Grauen überkam ihn, wenn er an die Verlogenheit dieses Weibes dachte ... Aber was wollte sie nur damit? ... Was beabsichtigte sie denn mit dem Vorschieben seiner Person in dieser widerwärtigen Angelegenheit? ... War es auch nur wieder ihre krankhafte Verlogenheit, die nichts, aber auch gar nichts ohne Intrige fertigbrachte? Oder verfolgte sie hier doch einen bestimmten Zweck mit ihrem Vorgehen? ... Denn letzten Endes beabsichtigte sie doch immer irgend etwas mit ihren Lügen und Verdrehungen; nur dass ihre Pläne und Plänchen oft nicht zur Vollendung kamen, weil sich in diesem ränkesüchtigen Geiste immer schon ein neues Ziel vor das alte schob, ehe das noch erreicht war.
Der Agent redete unablässig; er spasste mit der Frau, der er die Spesen und Sporteln erklärte, die der neue Versicherungsantrag von ihr forderte, und die ihr zu hoch erschienen.
Klaus Mathiessen sah die beiden heimlich an; das war der Mann, der zu Karoline gepasst hätte! ... Da hätte sich listige, von keiner Rücksicht beengte Schlauheit zur augendienerischen Geschmeidigkeit gefunden! Und in ihrer nur ganz äusserlich verhüllten Brutalität wären sie beide einander gleich und gewachsen gewesen! ... Aber sicherlich! Dieser alte Junggeselle, dem man trotz seiner Fünfzig alles Üble nachsagte, der hätte sich wohl gehütet, die mundfertige und in ihrer Eifersucht keine Grenzen kennende Frau zu ehelichen! Wie sie umeinander herumschlichen und sich gegenseitig schöne Redensarten machten, wie ein paar grosse, schnurrende Katzen, das war schon köstlich! ... Klaus Mathiessen merkte mit stillem Behagen, dass all der Ekel und Widerwille, den seine Frau noch eben in ihm weckte, einer schmunzelnden Betrachtung wich ... Wie merkwürdig und interessant waren die beiden doch im Licht ihrer verschlagenen Instinkte! ... Nur allein bleiben mit der Frau nachher, wenn der Agent weg war, das hätte Lehrer Mathiessen nicht gekonnt.
Und da kam er zu einer neuen Verwunderung über sich selber ... der Agent Küper erhob sich eben und sagte:
„Na, adieu, Frau Mathiessen! ... Adieu, Herr Mathiessen!“
Der Lehrer hatte aufgeblickt und dem Agenten gerade in sein vom vielen Alkohol entflammtes Gesicht gesehen. „L .. l .. l .. l .. leben Sie wohl!“ Er näherte sich, von Mathiessens Auge schadenfroh festgehalten, der Tür. Da sagte der Lehrer:
„Warten Sie doch, Herr Küper, ich begleite Sie noch ein Stückchen ...“
Frau Karoline, die ebenfalls aufgestanden und mit zum Ausgang gegangen war, die fuhr herum:
„Was, du willst noch fortgehen?“
„Ja ...“
Er sah sie fest an. Und zum erstenmal in ihrem ehelichen Zusammenleben wich das Auge der Frau vor dem ihres Mannes, irrte hin und her und versank in Schwäche.
Damit ging er hinaus auf den Korridor, nahm seinen Schlapphut vom Riegel und sagte, wieder hereintretend:
„Warte nicht auf mich, Karoline! ... Kommen Sie doch, Herr Küper ... adieu!“
Er küsste sie nicht auf die Stirn, wie er sonst, einer Art von Pflichtgefühl folgend, immer getan hatte ... Er nickte ihr zu, nahm einen heimlichen Blick des Argwohns und der trotzigen Drohung voller Gleichmut mit sich auf den Weg und betrat an Küpers Seite die Strasse ... Wenige Schritte von seinem Hause entfernt verabschiedete er sich von dem Agenten.
Der Mond stand über der Strasse, deren letzte Passanten in den Häusern verschwanden. Bei dem Kriegerdenkmal, in der Nähe des alten Brunnens, der seines guten Wassers halber gesucht war, standen noch ein paar Mägde mit ihren Burschen ... heimliches Lachen ... Laute, an deren Klang man hörte, dass sie Zärtlichkeiten sagten, trafen des Lehrers Ohr, der weiterging, durch die alte Baustrasse, zum Tore hin, wo der mittelalterliche Wachtturm breit und wuchtig in die blaue Nacht ragte.
Lehrer Mathiessen ging hinaus aus der Stadt. Und wie er die Strasse entlangschritt, deren linke Seite der alte Kirchhof einnahm, da sah er sich selber wieder als Schüler der Präparandenanstalt.
Er sah sich dort drüben im dunklen Eingang verschwinden, hinter die Ligusterhecken, in den Alleen, wo all die Jugend abends promenierte, die hier ihr Herz in Liebe schlagen fühlte ... Denn er war nicht allein, der langaufgeschossene Junge mit dem hellen Kraushaar, der kurz vor seinem Lehrerexamen stand ... An seiner Seite, durch das schweigende Dunkel, das die alten Bäume und vielleicht auch die längst Verstorbenen mit ihrem geheimnisvollen Flüstern belebten, ging ein blondes, schlankes Mädchen, das er immer einer Lilie verglichen hatte; so zart war sie gewesen, die Gertrud Florian, und so blass hatte sie ausgesehen ... In der Nacht freilich, in der stummen, seligen Frühlingsnacht, in die Faulbaum und Flieder ihre Düfte gossen, beim Schluchzen der liebenden Vögel hoch oben in den dunkeln Baumkronen, da spürte er nur den brennenden Hauch ihres roten Mundes und lauschte der verhaltenen Sehnsucht in ihren Worten, die noch ihren Teil von der grossen Daseinsfreude begehrte, ehe der Unerbittliche kam, der sie fortnehmen wollte für immer ... Nur dass der junge, hellhaarige Präparand zu schüchtern war und ihr Werben nicht verstand ... Er sprach ehrfurchtsvoll zu ihr, mit geheimem Beben und wagte nicht, den fiebernden Mund zu küssen, der sich ihm, ach so gern, geboten hätte! ... Dann kam das Examen, das Klaus Mathiessen mit allem Lobe bestand. Und als junger Lehrer in ein entferntes Dorf verschlagen, nahm der Jüngling das Bild der blonden Trude in seinem Herzen mit sich; am Abend seines Fortgehens hatten sie einander ihre junge Liebe gestanden ... Briefe flogen hinüber — herüber; bis eines Tages ihre Mutter, die von dem heimlichen Verlöbnis wusste, statt der Tochter schrieb: Die Trude sei unpass, hoffe aber bald selber ihren Bräutigam zu sehen, der ja in den Michaelisferien nach Hause kommen wollte.
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