„Dat lat di man von annern vertellen, olle Köster!“
Damit wollte der Trunkene dem Lehrer auf die Schulter schlagen, traf aber daneben.
Klaus Mathiessen hatte in diesem Augenblick auf der anderen Strassenseite ein Mädchen gesehen — Asta Hindorf! ... Sofort gab er, der nie die Hand gegen den Nebenmenschen erhob, dem Trunkenbold einen Stoss, dass er gegen die Hauswand flog ... Und dann schritt Klaus Mathiessen, vom Gegröl des Menschen, der weitertaumelte, verfolgt, über den Strassendamm, auf die Dame zu, die ihn wohl jetzt erst bemerkte.
In Astas Gesicht kam und wich das Blut, es kam zurück vom Herzen, wo es sich Mut und Kraft geholt hatte zu den Worten, die sie an ihn richtete:
„Wir haben Sie so lange nicht gesehen ... waren Sie krank, Herr Mathiessen?“
Da war nichts von Liebe, kein Laut sprach von der Glut der Leidenschaft, die an der Seele des Mädchens rüttelte und brach ... Aber er hörte alles, er hörte ihre Küsse, ihre heissen Liebkosungen, ihre letzte, volle Hingabe aus diesen Silben ... Er wusste nicht, was er sagte, was er erwiderte auf die banale Frage, aber er sah ihre Augen aufleuchten wie zwei lichte Sterne, sah ihre rosigen Lippen sich wölben und fühlte nur sich und sie, in grenzenloser Einsamkeit allein, aber beisammen in Liebe für alle Zeiten.
Dann merkte er, dass er und das blonde Mädchen miteinander lachten; und dass ein drittes, was sein, sein ganz allein war, bei ihnen stand, wie etwas Holdes, Schönes und Seliges, das immer da sein und bleiben wird.
Zur Besinnung kam er eigentlich erst, als er sich schon verabschiedet hatte und über den Damm auf sein Haus zuging.
Da sah er, dass gerade der betrunkene Behrendt in den Torweg seines Hauses hineinschwankte.
An diesem Tage lernte Klaus Mathiessen jenes Gefühl der inneren Zwiespältigkeit kennen, mit dem manche Menschen geboren werden, das andere als die einzige Möglichkeit, das Leben zu führen und zu tragen, nach vielen Kämpfen übernehmen und das nur die brutalen niemals begreifen.
Zum erstenmal empfand der Lehrer mit aller Deutlichkeit und Bewusstheit eines lebenslänglich dazu Verurteilten, dass er das Wesen und die Person seines Weibes nicht immer würde ertragen können.
Und gerade heute war sie weich und von einer Nachgiebigkeit ihm gegenüber, wie niemals sonst.
„Komm, setz’ dich doch, Menne!“ Sie führte ihn zum Sofa, wie wenn er krank wäre und nicht laufen könnte. „Wen hattest du denn da? ... Die Dame aus dem Werk, ach so! ... Ja ... Das sind wirklich feine Leute! ... Du hast ja solche Bekanntschaften ...“
Mathiessen fürchtete schon, einer von Frau Karolines Eifersuchtsanfällen verberge sich hinter den schmiegsamen Worten; aber kein Ton ihres sanften, beinah wehmütigen Geplauders verriet, dass sie böse Hintergedanken habe.
Nachher beim Mittagessen — es gab heute Sauerbraten und Kartoffelklösse, ein Lieblingsessen des Lehrers — da kam sie, fast zaghaft, mit der Mitteilung, der Versicherungsagent sei heute dagewesen und habe die neuen Policen gebracht, und sie fügte, Mathiessens Augen mit den ihren suchend, hinzu:
„Im Grunde hast du ja eigentlich doch recht gehabt, Menne, die Dinger hätten auch so bleiben können ... Denn nicht wahr, die anderen haben doch auch nicht mehr?! Gestern hat noch Beseberg, der Buttermann, du weisst doch, der immer aus Unterberge kommt, der erzählt ja auch, dass er’s so gemacht hätte! Na, nu gleich dreimal soviel! Nu hat er jedes Jahr die grosse Prämie! Ich möchte auch schon fast hingehen und sagen: Nein! Aber ’s sieht ja so dumm aus! ... Na, und is ja nu auch mal, nicht wahr, da kann’s auch so bleiben! Mein Gott, schliesslich, solange wie ich noch lebe ...“
Sie redete immer weiter und immer in dieser weichlichen Tonart. Klaus Mathiessen aber fand nichts Auffälliges daran, er hörte ja kaum, was sie sagte, und hatte nicht das geringste Interesse an ihren Worten. Ihm war, als spräche jemand aus einer Entfernung zu ihm, die sich fortwährend vergrösserte; bei der man sich eher wundern musste, dass diese unsympathische Stimme trotz alldem verständlich blieb.
Was aber Klaus Mathiessen am merkwürdigsten deuchte, das war die absolute Klarheit über sich selber, die er hatte bei diesem starken Empfindungswechsel, dieser wachsenden Kälte dem Weibe gegenüber, mit dem er so viele Jahre Seite an Seite gelebt hatte ... Er war sich vollkommen klar darüber, dass jedes, aber auch das letzte Fünkchen Gefühl und Zuneigung für diese in die Breite gehende Frau, die da neben ihm auf dem Stuhl sass und so endlos quasselte, in seiner Brust erloschen sei ... Sie ging ihn nichts mehr an; sein ganzes Innere fühlte sich ihr gegenüber so fremd, als wäre sie eben erst störend und in allem unsympathisch in sein Dasein getreten ... Und Klaus Mathiessen begriff auch, dass sich das nie wieder ändern, dass nie mehr der frühere Zustand des grossen Mitleides, der gewohnheitsmässigen Zuneigung oder auch nur der freundschaftlichen Duldung von ihm zu ihr möglich sein würde ... Und anstatt dass ihn diese starke und unverrückbare Erkenntnis mit Schmerz, mit Trauer hätte anfüllen sollen, war Lehrer Mathiessen ganz ruhig und zufrieden in seiner Seele, die von einer geheimen und schön verborgenen Genugtuung erwärmt wurde, dass er jetzt frei wäre, befreit von einer, die seiner nicht würdig war, die ohne alle Berechtigung so lange einen Platz in seinem Herzen festgehalten hatte ... Ja, die Gefühle und Empfindungen dieses Mannes waren aufgestanden zu einer solchen Revolution, dass er, der allzeit treue und ehrliche, sich einen förmlichen Feldzugsplan zurechtlegte, wie er seine Frau täuschen könne und ohne äussere Unbequemlichkeiten seiner grossen Leidenschaft leben, ihr heimlich überall Altäre bauen, und wie er so wenig als möglich von seinem Ich einer anderen lassen wollte, als nur der Geliebten.
Noch sah er den Ausweg nicht aus seinem Käfig; noch wagte er auch nicht an den Augenblick zu denken, der ihm, dem Freigewordenen, die heissbegehrte Liebe in den Arm legen sollte ... Aber seine Nerven tasteten an den Ketten, die ihn banden; und seine Gedanken umschlichen ein fremdes Hans, ein Hans, in dem sein Freund wohnte, nach Möglichkeiten spähend, die Geliebte heraus in seine Arme zu locken.
Robert Wegberger kam jetzt zu Tisch, und schon, als ihn Klaus Mathiessen draussen die Tür aufschliessen hörte, überkam ihn eine eigene und unbequeme Befangenheit.
Das da war einer von den Ehrlichen; der Sohn der verlogenen Frau, von der er selbst niemals Wahrheit empfangen, ja von der er sie nicht einmal erwartet hatte! Aber Robert war ohne Falsch, war auch zu stolz, seine Lippen mit der Lüge zu beflecken. Und den musste Klaus Mathiessen auch belügen; zu dem musste er auch Hinsehen mit arglistigen Gebärden und verdeckten Worten, als ob er noch der alte Klaus Mathiessen wäre, der Mann der Wahrhaftigkeit und der Güte zu allen, die ihm anvertraut waren.
Und da merkte der Lehrer, wie leicht sich die Arglosen betören lassen. Der junge Arzt plauderte mit ihm, sie lachten beide und scherzten gar; und jener merkte nicht einen Augenblick, dass der Stiefvater etwas gegen seine Mutter im Herzen trug. Er hatte auch wenig Zeit, wie gewöhnlich, der Doktor, und erzählte nur, dass er einen Antrag als Arzt nach Südwest-Afrika bekommen habe, der sehr vorteilhaft für ihn wäre.
Da stürzten Frau Karoline die hellen Tränen aus den Augen.
„Du willst fort, Robert? Du willst fort! Ach, denn hab’ ich ja gar keinen mehr!“
Nun hätte Klaus Mathiessen sein Weib umfassen müssen, wenigstens ihre Hände nehmen, zum Trost, das fühlte er. Aber es war ihm bis in die Seele unmöglich ... Er blieb sitzen, lächelte nur und wollte etwas sagen, als Robert ihm zuvorkam mit den Worten:
„Aber, Mutter, ich bitte dich! Noch habe ich ja die Stellung gar nicht!“ Er lachte lustig. „Und dann ist es ja auch sehr fraglich, ob ich sie annehme! Da sprechen wir erst noch lange drüber!“
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