Schenken wir den dürftigen Quellen Glauben, versuchte Alfred schon 875, eine Seemacht aufzubauen. Wie der walisische Mönch Asser vermerkt, war sich der junge Sachsenkönig in Ermangelung einer Flotte nicht zu schade dafür, sogar Seeräuber in seine Dienste zu nehmen. 47Durch die Piraten verstärkt, griff er sechs Wikingerschiffe an, von denen er eines enterte. Es war der erste Seesieg, den Alfred persönlich im Kampf gegen dänische Seeräuber erfocht.
Leider blieb er vorerst nur eine Episode. Mitten im tiefsten Frieden brach im selben Jahr eine Abteilung des Großen Heeres von Repton in Mercia auf und marschierte nach Cambridge, an die Nordgrenze von Wessex.
Hier überwinterten die Dänen, wobei sie das Land restlos ausplünderten. Als das Jahr 876 anbrach, überrumpelten sie Alfred vollständig. In unerwarteter Schnelligkeit stießen sie nach Wareham im Süden Wessex’ vor und schlugen dort ihr Lager auf. Damit befanden sie sich im tiefsten Süden des Landes, westlich der Isle of Wight und im Rücken Alfreds. Wie immer nutzten die Dänen ihren augenblicklichen Vorteil. Hemmungslos begannen sie, das Umland der unglücklichen Stadt zu verheeren.
König Alfred reagierte sofort. Kaum, dass er die Nachricht vernommen hatte, rückte er mit seinem Heer nach Wareham, um das Wikingerlager zu erstürmen. Doch die Stellung der Wikinger erwies sich als zu stark. Alfred blieb einzig übrig, zu verhandeln und die Wikinger gegen Zahlung eines Tributs zum Abzug zu bewegen. Der Frieden wurde beschlossen, dann unter mehrfachem Eid besiegelt und später durch Geiseln abgesichert.
Es war ein fauler Frieden.
Noch in derselben Nacht brachen die Dänen alle Eide. Sie fielen über Alfreds Kavallerie her, töteten die meisten Reiter, dann ritten sie ab. Als der Morgen graute, marschierten die Wikinger auf Exeter zu und begruben die Sachsen ihre Toten. Es war ein Schurkenstreich, der die Handschrift des Wikingerkönigs Guthrum trug. Dieser Dänenkönig mauserte sich in der Folgezeit zu Alfreds gefährlichstem Gegenspieler. Den wenigen Informationen nach, die wir über seine Herkunft besitzen, soll er früher Unterkönig in Jütland gewesen sein, bis er von dort vertrieben wurde.
Der Wortbruch Guthrums empörte Alfred. Noch am selben Tag ließ er alle dänischen Geiseln hängen und rückte mit seinem Heer nach Exeter aus, die Eidbrecher zu belagern. Da er jedoch kein schweres Gerät hatte, die Stadt zu erstürmen, beschloss er, die Belagerten auszuhungern.
Die Dänen durchkreuzten Alfreds Pläne. Mit 120 Schiffen machten sie sich auf den Weg, die belagerten Piraten zu entsetzen. Daraus wurde nichts. Als die dänische Flotte auf der Höhe von Swanage segelte, zog ein gewaltiger Sturm auf, der die Wikingerflotte an die Küste warf und zu einem großen Teil vernichtete. Eine glückliche Fügung hatte Alfred den Sieg beschert, der den Fall Exeters nach sich zog. Diesmal zogen sich die Dänen wirklich nach Mercia zurück.
Als der König gegen Ende des Jahres 877 im königlichen Sitz von Chippenham das Weihnachtsfest beging, konnte er zufrieden sein. Ohne große Verluste hatte er die Wikinger in Schach gehalten. Jetzt konnte er hoffen, sie im nächsten Jahr zu schlagen. Aber der Sachsenkönig hatte die Rechnung ohne Guthrum gemacht. Kurz nach den Weihnachtsfeiertagen griff der Däne Anfang Januar 878 völlig überraschend die Westsachsen an.
Der Zeitpunkt war hervorragend gewählt. Nach westsächsischer Tradition hatte Alfred seinen Heerbann entlassen, um in Frieden das Weihnachtsfest zu begehen, und nur wenige Getreue um sich versammelt. Der Vorstoß auf Chippenham glückte und die Überrumpelung ebenfalls. Die Dänen nahmen die Stadt im Handstreich. Nur in einem hatte Guthrum Pech. Inmitten des Durcheinanders gelang Alfred die Flucht. Trotzdem hatte Guthrum sein Ziel erreicht. Durch seinen Überraschungsangriff war Wessex über Nacht führerlos geworden und faktisch ohne König.
Als sich das Gerücht verbreitete, dass König Alfred gefallen oder auf der Flucht war, verließ die angelsächsische Bevölkerung der Mut. In ihrer Panik flohen viele übers Meer, andere in nah gelegene Wälder. Guthrum und seine Dänen konnten zufrieden sein.
Über Nacht hatten sie sich Wessex untertan gemacht.
Alfred war allerdings nicht tot, sondern hatte sich mit geringem Gefolge tief nach Somerset hinein in ein unwegsames Sumpfgebiet geflüchtet. Dort schlug er sein Hauptquartier auf einer Insel auf, die inmitten eines Sumpfgebiets auf einer leichten Erhöhung lag und später unter dem Namen Athelney – die Insel der Edlen – in die Geschichte einging.
Athelney wurde die Geburt eines Mythos. Inmitten der Wildnis fand Alfred wie der Held im Märchen zu sich selbst und zu seiner höheren Berufung. Die schwere Niederlage wurde zur persönlichen Krise, der durch Erkenntnis und Einsicht Läuterung folgte. Zuerst musste Alfred dem Mythos nach in der kargen Winterlandschaft überleben und als einfacher Waidmann seinen Unterhalt bestreiten. Dabei half ihm ein einfacher Schweinehirt namens Denulf, der ihn bei sich aufnahm, ohne zu wissen, wen er vor sich hatte. Dies sah dessen Frau gar nicht gern, war es doch schon schwierig genug, die eigene Familie im Winter durchzubringen. Zumal der Fremde alles andere als eine Hilfe im Haushalt war.
Als Alfred den Auftrag bekam, auf das im Feuer liegende Fladenbrot zu achten, versagte er kläglich. Anstatt die Brotfladen rechtzeitig zu wenden, schnitzte er gedankenverloren an einem Speer herum. Die Episode endete in einem fürchterlichen Donnerwetter, als die Hausherrin zur Herdstelle kam und nur noch verkohlte Brotreste im Herdfeuer verrauchen sah. Die Dichtung hat die Schimpfworte der Hausherrin in etwas gedrechselten Versen für die Nachwelt bewahrt: »Träger Gesell! Siehst brennen das Brod und versäumst es zu wenden, Neugebackenes issest du immer mit Gier.« 48Es war eine Anekdote, die von dem König selbst oft erzählt wurde und viel zu seiner Volkstümlichkeit beitrug, genauso wie die Legende von der Erscheinung des Heiligen Cuthbert, der ihm in der Nacht den Sieg über die Dänen prophezeite. 49
Alfred wusste genau, was er zu tun hatte. Mithilfe weniger Getreuen baute er Athelney zur Festung aus. Dann formte er seine Getreuen zu einer Guerilla, die von Athelney aus die dänischen Streifen und Kommandos angriff und in zähen Kämpfen zurückdrängte.
Als der Frühling anbrach, hatte Alfred durch viele Erfolge wieder eine zahlreiche Truppe um sich geschart. Jetzt konnte er zum offenen Krieg übergehen. Dabei kam ihm zugute, dass die Dänen zur selben Zeit vor der angelsächsischen Festung Cynuit eine schwere Niederlage erlitten. Die Dänen verloren nicht nur ihren König Ubba und 800 Mann, sondern auch das heilige Rabenbanner Odins, das sie von Sieg zu Sieg geführt hatte.
Der Sieg von Cynuit war ein gutes Zeichen und verhieß Erfolg. Als der Königsbote mit Pfeil und Helm ausritt, um den Heerbann zu Egberts Stein zu rufen, folgten Alfred seine Untertanen in die Schlacht. Sie fand bei Edington statt, und endete mit einer vernichtenden Niederlage der Dänen. Verzweifelt flüchtete sich Guthrum mit seinen Kriegern in ein verschanztes Lager.
Es half den Dänen nichts. Wie zuvor die Sachsen bei Cynuit, so waren es jetzt die Dänen, die Not und Hunger litten. Im Gegensatz zu den bei Cynuit eingeschlossenen Angelsachsen, waren ihre Kräfte jedoch schon durch die Schlacht so geschwächt, dass sie an einen Ausfall nicht mehr denken konnten. Vierzehn Tage später ergaben sie sich bedingungslos dem siegreichen Sachsenkönig, der den Heiden Guthrum dazu nötigte, sich taufen zu lassen und sein Lehnsmann zu werden. Der Frieden war mild und weise. Alfred machte Guthrum zu seinem Lehnsmann und belehnte ihn faktisch mit Ost-Anglia, dem Gebiet, das der Dänenführer ohnehin schon besetzt hielt.
Nachdem der Däne 30 von Alfred ausgewählte Geiseln gestellt hatte, zog Guthrum, der jetzt mit christlichem Taufnamen »Aethelstan« hieß, ab. Die Legende will, dass der notgetaufte Christ nie mehr wieder als Wiking gegen die Angelsachsen zog und der blutrünstige Pirat durch die höhere Moral des Christentums zum sanften Lamm Gottes wurde.
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