Als ich zum Waldsaum kam, verstummte das Geräusch. Der Bach murmelte und gluckste. Irgendwo flatterte ein Vogel auf. Ich blieb stehen und lauschte. Zwischen den Bäumen fiel ein Streifen Sonnenlicht über Wurzeln und bemooste Steine. Eine Ameisenstraße führte durch die Tannennadeln. Farnkraut wehte im Sommerwind.
Ich versuchte mir einzureden, daß ich mich getäuscht hatte, doch ich wußte, so war es nicht. Ich hatte die Klagelaute gehört und Hazel ebenfalls.
Als ich den Kopf nach links wandte, sah ich etwas in der Sonne aufblitzen. Es waren die Augen eines Tieres. Ich hielt den Atem an: Da kauerte ein Tier mit rotem Fell zwischen den Wurzeln – ein Fuchs.
Jörn und Matty hatten mich mehrmals davor gewarnt, Füchsen zu nahe zu kommen. „Wenn du einem Fuchs begegnest, und er läuft nicht vor dir weg, sieh zu, daß du verschwindest. Er könnte Tollwut haben“, hatten sie gesagt. Auch dieser Fuchs lief nicht vor mir weg. Er rührte sich nicht von der Stelle und sah mit Augen zu mir auf, die vor Angst und Schmerz fast wahnsinnig wirkten.
Er lief nicht weg, weil er nicht weglaufen konnte; das begriff ich rasch. Sekundenlang starrten wir uns an, regungslos, und ich werde seine Augen nie vergessen. Dann bemerkte ich, daß er mit der Hinterpfote in eine Falle geraten war. Es mußte ein Tellereisen oder ein ähnliches Folterinstrument sein. Die Pfote war nur noch ein blutverkrusteter Klumpen, der Waldboden war schwarz von geronnenem Blut. Auch das Maul des Fuchses blutete. Wahrscheinlich hatte er in seiner Verzweiflung versucht, das Eisen aufzubeißen, das ihn peinigte.
Ich begann schrecklich zu zittern. Eine Welle von Hilflosigkeit, Zorn und Mitleid stieg in mir auf. Ich hätte am liebsten losgeheult. Als ich einen Schritt auf den Fuchs zutrat, fletschte er die Zähne, und seine Augen funkelten so drohend, daß ich mich nicht weiterwagte.
Ich wollte ihn befreien und wußte doch, daß ich es nicht konnte, daß er es nicht zugelassen hätte. Ich durfte nicht in seine Nähe kommen, konnte ihm nicht klarmachen, daß ich es gut mit ihm meinte. Und selbst wenn ich ihn befreit hätte – mit dieser verstümmelten Pfote hätte er innerhalb weniger Tage jämmerlich verenden müssen.
Jetzt begann ich wirklich zu weinen. Ich konnte den Fuchs nicht länger ansehen, die Qual in seinen Augen nicht mehr ertragen. Rasch drehte ich mich um und lief stolpernd zur Brücke zurück, wo Hazel auf mich wartete.
Sie wieherte unterdrückt und drängte ihre warme Nase an mein Gesicht. Schluchzend sagte ich: „Wir müssen Hilfe holen, Hazel – wir können ihn nicht in der Falle umkommen lassen. Warum sind die Menschen nur manchmal so gemein, so verdammt gemein . . .“
Der Heimweg kam mir sehr lang vor. Mir war so elend, als hätte ich etwas Verdorbenes gegessen. Ich dachte an all die geschundenen Tiere, wehrlos wie dieser Fuchs menschlicher Grausamkeit ausgeliefert. Ich dachte an das, was Gesine uns aus ihrer Tierschutzarbeit erzählt hatte – von Leuten, die nachts in Laboratorien eingedrungen waren, um Versuchstiere zu befreien, und dabei gebissen worden waren, weil diese Tiere jedes Vertrauen zu den Menschen verloren hatten, weil der Mensch für sie zum Inbegriff des Bösen geworden war.
Fallen waren verboten, das wußte ich. Und doch wurden sie in unseren Wäldern noch immer aufgestellt, nicht nur von Bauern, manchmal sogar von Sonntagsjägern, die Jagdgründe gepachtet hatten. Was waren das für Menschen, die so etwas taten? Ich konnte es einfach nicht begreifen, hatte es nie begreifen können – und doch wurden Tiere täglich zu Tausenden gequält und umgebracht.
Als ich Dreililien erreichte, war mein Gesicht so verheult, daß ich kaum noch aus den Augen sah. Der erste, dem ich begegnete, war Mikesch, und ich erzählte ihm alles – schluchzend und in unzusammenhängenden Worten.
„Was sollen wir bloß machen, Mikesch? Befreien kann man den Fuchs nicht, verstehst du – er ist wie wahnsinnig und läßt keinen an sich heran! “
Er hörte schweigend zu. Dann holte er ein Glas Zwetschgenschnaps, zwang mich, es in einem Schluck auszutrinken und sagte: „Daß es überall so verfluchte Idioten geben muß! Der Teufel soll diese Leute holen . . . Natürlich ist es verboten, Fallen aufzustellen. Aber die Strafen für Zuwiderhandlungen sind so gering, daß sich viele nicht um das Verbot kümmern. Unser Tierschutzgesetz ist einfach lächerlich, es bewirkt fast gar nichts. Paß auf, wir rufen jetzt die zuständige Forstverwaltung an. Die werden am besten wissen, was zu tun ist. Ich weiß zwar, wem der Wald am Mühlbach gehört, aber es ist wohl besser, den Bauern vorerst nicht einzuschalten. Vielleicht hat er die Falle sogar selbst aufgestellt.“
Mikesch hatte die richtige Art, mit den Leuten zu reden. Nach knapp zwanzig Minuten erschienen zwei Männer von der Forstverwaltung in einem grünen Auto. Sie hatten ein Gewehr dabei und ließen sich von mir den Weg zur Brücke beschreiben und die Stelle, an der ich den Fuchs entdeckt hatte. Mitkommen wollte ich nicht.
„Was werden Sie mit ihm machen?“ fragte ich.
Einer der beiden erwiderte: „Wir werden ihn wohl erschießen müssen, wenn er so schwer verletzt ist, wie du sagst. Aber wir haben auch ein Betäubungsmittel dabei. Falls die Pfote noch zu retten ist, bringen wir ihn in die Tierklinik.“
„Und was wird aus dem Kerl, der die Falle gestellt hat?“ fragte Mikesch. „Man sollte ihm wirklich die Jagdlizenz entziehen, falls es ein Jäger war.“
„Wir werden schon herausfinden, wer es war“, meinten die beiden. „Natürlich muß Anzeige erstattet werden. Aber vor allem müssen wir erst mal feststellen, ob es nicht vielleicht eine Füchsin ist, die irgendwo in der Nähe der Falle ihren Bau hat. Falls sie Junge hatte, müssen wir uns um sie kümmern, sonst verhungern sie – wenn es nicht schon zu spät ist.“
Ich begann wieder zu weinen, während die Männer zum Waldrand fuhren. Die Vorstellung, daß das verletzte Tier vielleicht wirklich ein Weibchen war, daß zu dem körperlichen Schmerz auch noch die Qual einer Mutter kam, die nicht zu ihren Jungen konnte, machte alles noch schlimmer.
Ein paar von den Ferienreitern kamen und wollten wissen, was passiert war, und ich ging nach Hause, denn ich wollte nicht mehr darüber reden. Ich wollte mich nur noch verkriechen und für eine Weile nichts mehr von dieser Welt hören und sehen, die so grausam sein konnte, in der es Menschen gab, die ihre Mitgeschöpfe so bedenkenlos quälten.
Das Kavaliershäusl wirkte im Licht der Nachmittagssonne sehr friedlich und verträumt mit seinem roten Dach, den grün gestrichenen Fensterrahmen, dem Rosenspalier und dem blühenden Vorgarten. An diesem Nachmittag erschien es mir fast kitschig, so, als würde es mir eine heile Welt vorgaukeln, die es eigentlich nicht gab. Und doch war auch das ein Stück Wirklichkeit, war meine Zuflucht, wenn ich mich vom Leben zu sehr gebeutelt fühlte.
Kirsty war nicht zu Hause. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. „Bin mit Kathrinchen zu Gesine geradelt“, stand da. „Gemüse ist im Kühlschrank. Wärm dir etwas auf, wenn du magst.“
Ich hatte keinen Hunger, aber es tat gut, allein zu sein. Ich ging in mein Zimmer hinauf, mit schleppenden Schritten, als trüge ich eine Last auf meinen Schultern. Durch das geöffnete Fenster kam die warme Sommerluft und der Duft sonnenbeschienener Rosen.
Ich zog meine Schuhe aus und legte mich aufs Bett. Als ich die Augen schloß, sah ich den Fuchs vor mir, seine grausam zerschundene Pfote, seine Augen. Meine Kehle krampfte sich zusammen. Ich stand wieder auf, um das Fenster zu schließen und die Vorhänge vorzuziehen. Als ich die Hand nach dem Fenstergriff ausstreckte, erklang in der Ferne ein Schuß.
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