„Wenn bloß dieses halbstarke Volk nicht wäre“, sagte Matty, als wir die Stalltür hinter den Mutterstuten und ihren Fohlen schlossen und uns auf den Weg zu den Koppeln machten. „Die lachen sich jetzt bestimmt wieder ins Fäustchen, wenn wir wie die Blöden hinter ihnen herjagen. Paß bloß auf, Nell, daß dir nicht wieder einer der Jährlinge einen Tritt versetzt.“
„So dumm bin ich nicht mehr“, verteidigte ich mich. „Außerdem war damals, als ich den Unfall hatte, das Gewitter schon voll da, und . . .“
„Er hat sich gedreht!“ sagte Jörn.
„Wer?“
„Der Wind natürlich. Seht ihr’s nicht? Die Wolken ziehen jetzt in östliche Richtung.“
Wir blieben auf dem Pfad zwischen den Koppeln stehen. Tatsächlich bewegte sich die schwarze Wand nun mit erstaunlicher Geschwindigkeit weg von unserem Tal und über die Wälder, begleitet von dramatischen Blitzen und knallenden Donnerschlägen.
„Ich glaube, da haben wir noch mal Glück gehabt – auch wenn ich deine Stiefel putzen muß, Nell“, sagte Matty. „So ein Unwetter kann verdammt unangenehm werden. Erst vor kurzem hab ich in der Zeitung gelesen, daß im Rottal ein Blitz in ein Bauernhaus eingeschlagen hat. Der ganze Hof mitsamt den Ställen ist abgebrannt.“
„Haben sie die Tiere retten können?“ fragte ich.
„Ja, zum Glück. Aber wir mit all unseren Pferden . . . das wäre die totale Katastrophe.“
„Aber ihr habt doch einen Blitzableiter!“ sagte ich ängstlich.
„Wenn’s ganz dick kommt, nützt der auch nicht immer was“, erwiderte Jörn.
Erleichtert sahen wir zum Gebirge hinüber. Ein paar versprengte Tropfen klatschten uns ins Gesicht. Die Stuten standen dichtgedrängt am Koppelzaun der Südweide und wieherten. Es klang vorwurfsvoll.
„Sie haben gesehen, daß wir die Mutterstuten in den Stall gebracht haben. Jetzt möchten sie natürlich auch hinein“, sagte Jörn.
Wir legten uns ins Gras und beobachteten den Himmel. Überall standen Gewitterfronten. Manche waren so weit entfernt, daß wir nur die Blitze sahen, aber keine Donnerschläge hörten.
„Schaut euch das bloß an!“ murmelte Matty andächtig. „Wahnsinn, diese Stimmung!“
„Ich glaub, ich hab eine Idee“, sagte ich.
„Ich auch“, sagte Jörn. „Vielleicht ist’s die gleiche. Geht das Wort mit einem B an?“
„Nein, mit einem W wie Waldweiher.“
Er grinste. „Und B wie Baden!“
„Nicht übel“, sagte Matty väterlich. „Bei diesem Wetter ist das bestimmt saustark. Reiten wir, oder meint ihr, daß die Pferde zu unruhig sind?“
„Die haben bestimmt schon gemerkt, daß sich das Gewitter verzogen hat“, meinte Jörn.
Ich sprang auf. „Ich ziehe schnell meinen Bikini an“, sagte ich.
„Gut. Wir kümmern uns inzwischen um die Pferde.“
Wir ritten in den Badeanzügen ohne Sattel und Zaumzeug am Waldrand entlang. Vom Gewittersturm war nur noch ein sanfter, warmer Wind übriggeblieben. Die Vögel hatten schon ihre Schlafbäume aufgesucht, und durchs Gebüsch strichen die ersten Nachttiere – Füchse, Marder und Igel. Wir hörten ihr heimliches Rascheln und Tappen und das Knacken von Zweigen unter ihren Pfoten, denn die Pferdehufe verursachten keinen Laut im dichten Gras. Ein Käuzchen schrie. Jetzt waren mir all diese Geräusche vertraut, die ich früher, als ich noch in der Stadt gelebt hatte, so unheimlich und bedrohlich gefunden hatte.
Der Waldweiher glänzte still und verträumt unter dem Abendhimmel – ein winziger Teil dieser Erde, der noch nicht zerstört, überbaut, verändert oder „erschlossen“ war; ein Einschnitt zwischen Waldstücken, gespeist von unterirdischen Quellen, in dem es noch Fische und kleine Molche gab, Libellen in den Binsen, Frösche und Scharen von Wasserläufern.
Dazwischen war nur eine einzige Uferstelle nicht vom Schilf zugewachsen. Dort ritten wir mit den Pferden ins seichte Wasser. Sie genossen die Erfrischung nach dem schwülen Tag ebenso wie wir, sie prusteten laut und platschten mit den Hufen wie Kinder, die im Wasser spielen.
„Wenn bloß die verdammten Bremsen nicht wären!“ brummte Matty und schlug zu, daß es klatschte. „Immer muß irgendwas sein, das die Romantik zerstört!“
Als die Pferde bis zum Widerrist im Weiher standen, ließen wir uns ins Wasser gleiten und schwammen, denn wir wußten, daß in ihre Augen und Ohren kein Wasser dringen durfte. Hazel kehrte als erste ans Ufer zurück; dann folgte ihr Jörns Schimmelstute Katama. Als letzte watete Rapunzel an Land, schnaubend und triefend wie ein Nilpferd.
Im Licht der fernen Blitze sahen wir, wie sich die Stuten im Gras wälzten und die Beine in die Luft streckten, während wir unter den tiefhängenden Weidenzweigen schwammen, still, die Gesichter vom Wasser umspült. Meine Haare trieben schwer hinter mir her, vollgesogen von Nässe. Fledermäuse schwirrten über den Weiher auf der Suche nach Beute. Das Wasser gluckste zwischen den Schilfhalmen. Ein Frosch quakte, und beim Schwimmen berührte Jörns Arm den meinen.
Ebenso warm wie das Wasser war der Wind, und die beginnende Nacht war hell wie von einem riesigen Feuerwerk. Immer schwächer wurde das Donnergrollen, doch unablässig zuckte Wetterleuchten über dem Gebirge, den fernen Dörfern und Gehöften. Am Rand der Gewitterzone schimmerten die Sterne zwischen Wolkenfetzen. Der Duft der Sommerwiesen mischte sich mit dem Geruch des Wassers. Ein Vogel rief.
Der erste Ferientag begann wie im Bilderbuch – mit milchig blauem Himmel, malerischem Sonnenaufgang hinter den Tannenwipfeln, Vogelgesang vor meinem Fenster und mit Kater Carlo, der sich voller Behagen auf meiner Bettdecke räkelte.
Ich sagte: „Stell dir vor, heute fangen die Sommerferien an! Aber so was versteht einer wie du natürlich nicht, für den das ganze Leben fast nur aus Ferien besteht.“
Er gähnte und sah mich an mit Augen, die so grün waren, daß jede Filmschauspielerin ihn darum beneidet hätte. Aus dem jämmerlichen Winzling, den ich zu Weihnachten von meiner Freundin Carmen bekommen hatte, war nun ein großer schwarzer Kater geworden mit dicken Pfoten und dem Kopf einer ägyptischen Göttin; ein Kater, der in jeder Lebenslage genau wußte, was er wollte, und der augenblicklich Kirstys beliebtestes Modell für ihre Tonplastiken war.
Ich sah auf die Uhr und stellte fest, daß ich verschlafen hatte. Eigentlich hätte ich schon seit einer halben Stunde im Stall sein müssen, um bei der Morgenfütterung zu helfen; doch am ersten Ferientag konnte man wohl mal eine Ausnahme machen und ausschlafen. Außerdem hatten wir schon seit einer Woche ein Dutzend Reitschüler aus anderen Bundesländern, in denen die Ferien bereits begonnen hatten; und einige von ihnen waren so pferdenärrisch, daß sie sogar freiwillig bei der Stallarbeit halfen.
Der Frühstückstisch war schon im Garten unter der Eiche gedeckt, als ich mit Kater Carlo im Schlepptau aus dem Haus kam. Mein Vater war längst zur Arbeit gefahren, und Kathrinchen, meine kleine Stiefschwester, wackelte auf ihren komischen krummen Beinchen zielstrebig durchs Gras und brachte mir einen verschrumpelten grünen Apfel.
„Affel!“ verkündete sie stolz.
„Vielen Dank“, sagte ich. „Den esse ich zum Frühstück. Er sieht köstlich aus.“
Sie lachte erfreut und wandelte wieder davon, wohl, um weiter nach Fallobst zu suchen. Offenbar hatte ich genauso reagiert, wie sie es sich erhofft hatte. Jetzt konnte es passieren, daß sie unermüdlich alle grünen Äpfel anschleppte, die sie fand, einen nach dem anderen, und mir jeden mit der gleichen feierlichen Geste überreichte, um sich dann wie ein Schneekönig zu freuen, wenn ich mich immer wieder dafür bedankte.
Kirsty tauchte aus ihrer Töpferwerkstatt auf, die Hände und Arme voller Ton. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren ganz hell von der Sonne. „Kaffee ist in der Thermoskanne“, sagte sie. „Ich hab schon mit deinem Vater gefrühstückt. Hast du’s sehr eilig, oder könntest du nachher noch die Malven aufbinden, ehe du gehst?“
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