Malgradis Großzügigkeit war nicht uneigennützig. Malgradi half ihm dabei, in Italien Fuß zu fassen, und er garantierte ihm im Gegenzug maximale Diskretion bei seinen turbulenten Sexaffären. Kein Meldezettel, keine peinlichen Meldungen ans Präsidium, keine Dokumente. Zum Dank wählten ihn alle seine Landsmänner, die die heiß ersehnte Staatsbürgerschaft erhalten hatten – bisher ungefähr tausend.
Es handelte sich also gar nicht so sehr um Großzügigkeit, sondern um ein Abkommen. Und Abkommen gelten, wie man weiß, nicht ewig. Beziehungsweise können sie neu ausgehandelt werden.
„Jetzt bin ich am Zug, Herr Abgeordneter.“
Deshalb ging Kerion Kemani, ein albanischer Portier und angehender italienischer Staatsbürger, in die Anna-Magnani-Suite hinauf, nahm einen Kissenbezug, der nass war und stank, wonach, wollte er gar nicht genau wissen, und ein Stück Stanniolpapier mit weißem Pulver, lud das Handy und machte der Vollständigkeit halber ein paar Fotos vom Tatort. Später, in seiner Zweizimmerwohnung im Pigneto, in der er mit seiner Schwester wohnte, die jetzt keine Hure mehr war, sondern eine alte Dame im Rollstuhl betreute, schrieb er einen kurzen Bericht und ging zu Bett.
Zu gegebener Zeit würde er das brauchen können.
Spadino und Sabrina luden die Leiche im Nationalpark Marcigliana ab, der ein paar Kilometer von Monterotondo Scalo entfernt war. Spadino entdeckte eine Art kleiner Schlucht, gemeinsam zerrten sie die Litauerin aus dem Auto und legten sie auf einem schönen Bett aus Blättern und trockenen Ästen ab.
– Ruhe in Frieden, Amen, sagte Spadino und rollte sich eine Zigarette.
– Bringst du mich jetzt bitte nach Rom zurück?
– Entspann dich, Sabrí, schau dir den schönen Sternenhimmel an. Die Sache fängt erst an. Ich glaube, den Abgeordneten wird der Spaß eine schöne Stange Euro kosten.
– Damit will ich nichts zu tun haben.
– Ich habe dich auch nicht darum gebeten. Im Gegenteil: Du kennst mich nicht mal, klar?
– Pass auf, Malgradi ist gefährlich.
– Wer? Der?
– Er hat die richtigen Freunde, Spadí, unterschätz ihn nicht.
– Red’ keinen Unsinn! Ich bin gefährlich, meine Liebe! Hör jetzt zu flennen auf, was geschehen ist, ist geschehen.
– Spadino, ich möchte mein Leben ändern.
– Pech für dich, sagte er sarkastisch und warf die Kippe weg. – Ich habe jetzt Lust bekommen.
– Ich bitte dich, fahren wir nach Rom zurück.
– Das kostet aber was, sagte er kurz angebunden und knöpfte sich die Hose auf.
Sabrina machte sich an die Arbeit.
Vom Geruch angelockt, tauchten ringsherum unsichtbare und schweigende Schatten auf. Wilde Hunde.
II.
Spadino rief in der Abgeordnetenkammer an und verlangte Malgradi. Man verband ihn mit einer freundlichen Sekretärin.
– Der Herr Abgeordnete ist in der Stiftung.
– Wo is’ die?
– Bitte?
– Wo befindet sich die Stiftung?
– Auf dem Largo dei Lombardi. Kennen Sie den ehemaligen Sitz der PSI?
Von der PE-ES-I hatte Spadino noch nie etwas gehört, es dauerte eine Zeitlang, bis er begriff, dass dort auch der Laden war, wo er sich – wenn die Geschäfte gut liefen – mit geilen Schuhen eindeckte.
Er fuhr mit dem Moped hin, stellte es wie gewöhnlich neben dem Halteverbotsschild ab.
Sechs große straßenseitige Rauchglasscheiben bildeten ein L entlang der Piazza und des ersten Stücks der Via del Corso, dahinter bewegten sich flüchtige Schatten, es war nicht deutlich zu erkennen, wer dort ein und ausging. Die Tür aus bruchsicherem Glas öffnete sich automatisch mittels Fotozellen, und darüber befand sich eine Emailkokarde in den Farben der Trikolore. Auf einem Schild stand: „Rialzati, Roma“, erhebe dich, Rom. Warum, wann war Rom gefallen? Und wer sollte bei der Erhebung helfen? Malgradi? Ich bitte dich!
Die beiden Türsteher waren bekannte Gesichter: zwei Bodybuilder aus Ostia, die als Rausschmeißer in Diskotheken gearbeitet hatten, damals, als er Shit vor Schulen verkaufte. Sie nickten und ließen ihn hinein.
Sofort trat eine spindeldürre Schwarzhaarige auf ihn zu.
– Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?
– Ich suche den Herrn Abgeordneten.
– Haben Sie einen Termin?
– Wir sind alte Freunde.
– Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?
– Ich bringe ihm etwas, das er gestern in der Chiocciola vergessen hat, sagte Spadino und tippte an seinen Rucksack.
– Es wird etwas dauern. Der Herr Abgeordnete hat heute Vormittag jede Menge Sitzungen.
– Ich habe nichts vor. Ich warte.
– Dann folgen Sie mir bitte in die Italia-Lounge …
– Gerne.
Spadino folgte ihr über einen kurzen, dunklen Gang, über einen Kunstharz- und Betonboden, und von dort aus in ein sehr großes, viereckiges, fensterloses Zimmer. Über die mit Holz und Schieferplatten verkleideten Wände liefen kleine Wasserbäche, das Wasser sammelte sich in Stahlbecken, im Boden eingelassene Lampen verbreiteten ein kaltes Licht. Verdammt, dachte Spadino, mein Großvater, Gott hab ihn selig, hatte recht. Politik ist die beste Möglichkeit, Geld zu machen.
Mitten im Raum, in einem Halbrund schwarzer Ledersofas, Marke Chesterfield, vor einem Glastisch mit runden Füßen und einer Kopie der Trajanssäule darauf, saß ein schmächtiger, hohlwangiger Typ in blauem Nadelstreifanzug. Er unterhielt sich mit jemandem, der ihn ständig unterbrach und ihn mit „Herr Anwalt“ ansprach. Die beiden befanden sich mitten in einer Diskussion, die offenbar genauso angeregt wie heikel war.
– Das ist der Koordinator der römischen Sektionen, erklärte die spindeldürre Schwarzhaarige, – Anwalt Mauro Lotorchio. Fürs Erste können Sie sich mit ihm unterhalten.
– Ich nehme mir mal einen Kaffee.
Die Schwarzhaarige zeigte auf die kurze Seite der Lounge. Auf einer Theke aus Glas und Stahl thronte eine chromglänzende Vintage-Kaffeemaschine. Daneben standen zwei zwanzigjährige Blondinen in schwarzem Top, weißen Leggins und Highheels.
– Unsere beiden Volontärinnen helfen Ihnen gerne, sagte sie kurz angebunden, verärgert, und ging.
Spadino ging zur Bar, er musste nicht einmal einen Wunsch äußern. Eine Hand mit blaulackierten Nägeln reichte ihm einen Espresso.
– Arbeitest du wirklich umsonst?
– Der Abgeordnete sagt, Politik sei Dienst am Volk. Eine Leidenschaft. Keine Arbeit.
– Ach ja? Das sagt der Abgeordnete? Und was isst du am Abend?
– Der Abgeordnete oder einer seiner Mitarbeiter lädt mich zum Essen ein.
– Ach so.
Spadino blickte wieder Lotorchio und den Mann an, mit dem er sich angeregt unterhielt. Die beiden bemühten sich zwar leise zu sprechen, doch er verstand, was sie sagten. Der Typ wollte eine Wohnung. Lotorchio schlug eine vor, doch der andere lehnte ab. Keine war ihm recht. Aber wie viele Wohnungen hatten sie zur Verfügung? Und wem gehörten sie? Malgradi?
Nach dem ersten Kaffee trank er einen zweiten, und dann einen dritten. Die Zeit verging, keine Spur von Malgradi. Spadino stieg langsam das Blut zu Kopf. Schließlich einigten sich Lotorchio und sein Gesprächspartner und reichten einander die Hand. Der Typ zog ab. Ein hohes Tier der Verkehrspolizei kam herein, in Uniform. Er sah Lotorchio und ging ihm entgegen, wobei er einen Packen Dokumente schwenkte.
– Mein lieber Herr Anwalt! Ich bringe Ihnen die Behindertenausweise, um die mich der Herr Abgeordnete gebeten hat.
Na sowas! Spadino zündete sich gerade angewidert eine Zigarette an, trotz der „Rauchen-Verboten“-Schilder an den Wänden, als die Stimme Malgradis das Gespräch zwischen Lotorchio und dem Polypen unterbrach. Der Abgeordnete hatte sich bei einem kleinen, korpulenten Typen untergehakt, der einen schmutzig grünen Anzug, ein rosa Hemd und eine braune Krawatte trug. Das Gespräch, der Grund seines stundenlangen Wartens, schien zu Ende zu sein.
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