Drei Tage nach dem Einbruch, der auch nach DDR-Recht illegal war, hat die für die Korrespondenten zuständige Hauptabteilung II/13 die Ergebnisse der »konspirativen Durchsuchung« in einem mehrseitigen Bericht ausgewertet und zusammengefasst. Aus den Materialien in meinem Büro gehe hervor, so lese ich, dass ich die mir als Korrespondent zustehenden Befugnisse überschreite, Kontakt zu »feindlichen und politisch-negativen Kräften« sowie »sogenannten Kritikern des realen Sozialismus« suche und über »die angebliche Entwicklung einer inneren Opposition in der DDR« recherchiere. Die im Büro dokumentierten Unterlagen bestätigten ferner »die vielfältigen Verbindungen des Pragal zu solchen Bürgern der DDR, die mit rechtswidrigen Anträgen zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung in die BRD in Erscheinung getreten sind«.
Es folgt eine Aufzählung von Personen, die ich nach Ansicht der Stasi zu ihrem Begehren der freien Ausreise »inspiriert« oder sie dabei beraten habe. Als besonders wichtigen Fund der Durchsuchung werteten die Fahnder die »Riesaer Petition«. Ein Originalschriftstück mit rund 30 Namen und Adressen von Bürgern, die auf Initiative des sächsischen Arztes Karl-Heinz Nitschke unter Berufung auf die UN-Konvention über Menschenrechte die Übersiedlung in die Bundesrepublik gefordert hatten. Über mich heißt es in dem Stasi-Protokoll: »Er unterhielt persönliche Kontakte zu Mitgliedern dieser Gruppe, ließ sich umfassend über deren feindliche und negative Aktivitäten informieren und wertete diese Kenntnisse publizistisch ... in verleumderischer und diffamierender Weise gegen die DDR aus.«
Wer als West-Korrespondent im Machtbereich der DDR lebte, stand unter totaler Kontrolle des kommunistischen Geheimdienstes. Die Zimmer waren »verwanzt«, Telefongespräche wurden abgehört, Briefe geöffnet und mitgelesen, Hauspostkästen und Wechselsprechanlage kontrolliert, Kontaktpersonen registriert, Fahrten und Spaziergänge beobachtet und protokolliert. Wo immer wir waren, was immer wir machten – die Stasi hatte fast immer ein wachsames Auge auf uns. Was ich früher nur geahnt oder angenommen habe, ist in meinen Akten als »Operativer Vorgang Starnberg«, später »OV Kumpan, Teil Starnberg« auf etlichen Tausend Blatt dokumentiert.
Der Aufwand, den das MfS gegen uns »Klassenfeinde« betrieb, wirkt im Rückblick grotesk. Dass ich bei dienstlichen Fahrten in die DDR beobachtet wurde, war noch verständlich. Aber dass sich die »Firma« auch im Ost-Berliner Alltag über längere Zeitabschnitte von früh bis spät an unsere Fersen heftete, lässt sich wohl nur aus einem maßlos übersteigerten Sicherheitsdenken erklären. Sobald meine Frau und ich das Haus verließen, wurden mit akribischer Gründlichkeit über uns »Beobachtungsberichte« angefertigt.
Das liest sich so: »19.18 Uhr begab sich ›Starnberg‹ in Begleitung seiner Ehefrau Karin Pragal, welche den Decknamen ›Kobra‹ erhält, zum abgeparkten Pkw. Beide Personen fuhren auf direktem Weg zur Staatsoper. 19.37 Uhr betraten ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ die Staatsoper. Im Kassenraum begrüßte ›Starnberg‹ eine unbekannte männliche Person mit Handschlag. Diese Person erhält im weiteren Bericht den Decknamen ›Boa‹. ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ begaben sich zur Garderobe. Während der Vorstellung standen sie nicht unter operativer Beobachtung.« Aber danach. Denn im Bericht heißt es weiter: »22.16 Uhr verließen ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ die Oper, begaben sich zu ihrem Pkw und fuhren auf direktem Weg zu ihrer Wohnung, wo sie den Pkw auf dem Parkplatz abstellten und das Haus um 22.31 betraten. In der Wohnung wurde kein Licht festgestellt. Bis 24.00 Uhr trat ›Starnberg‹ nicht wieder in Erscheinung. Zu diesem Zeitpunkt wurde die operative Beobachtung unterbrochen.«
In der Regel habe ich von der Oberservierung nichts gemerkt. Wenn ich doch mitbekam, dass ich verfolgt wurde, dann war dies von Stasi-Leuten beabsichtigt. Es gab westliche Diplomaten und Berufskollegen, die versucht haben, potenzielle Verfolger abzuhängen. Ich habe von solchen Spielereien nichts gehalten. Aber aus den Akten weiß ich, dass ich es meinen Beschattern auch ohne Absicht nicht leicht gemacht habe. Am 4. März 1978 waren die Beobachter wieder einmal in Ost-Berlin hinter mir her. Laut Protokoll passierte um 11.23 Uhr Folgendes: »In der Ho-Chi-Minh-Straße wendete ›Starnberg‹ verkehrswidrig und fuhr in Richtung Frankfurter Allee. Dabei geriet er aus verkehrstechnischen Gründen außer Kontrolle.« Sie hatten mich aus den Augen verloren.
Eines Tages hatte es meine Frau satt, dass Kollegen aus der Münchner Redaktion tagsüber bei uns zu Hause anriefen und wissen wollten, wo ich gerade sei. »Das weiß ich doch nicht«, sagte sie. »Wenn er nicht im Büro ist, dann hat er einen Termin.« Manchmal fügte sie noch provozierend hinzu: »Vielleicht ist er auf der Toilette oder bei seiner Freundin.« Als ich abends in unsere Wohnung kam, meinte sie, der Verlag müsse mir endlich einen Anrufbeantworter für mein Büro besorgen. Dann würden die lästigen Anrufe in der Privatwohnung wohl aufhören. Ich war schon drei Jahre in Ost-Berlin und hatte mehrfach in München auf die Notwendigkeit einer technischen Neuanschaffung zur Verbesserung der Kommunikation hingewiesen.
Beim Besuch eines Verlagsmanagers trug ich erneut mein Anliegen vor und fand bei ihm Verständnis. Dann erkundigte ich mich beim Dienstleistungsamt, was außer einer Zolleinfuhr-Genehmigung für die Installation nötig sei. »Da stellen Sie mal einen Antrag«, sagte ein Sachbearbeiter, »und dann geht die Sache schon klar.« Das Verfahren sei ähnlich wie beim Telefon. Außerdem müsse ich mit ein paar Mark Gebühren rechnen. Obwohl ich die verlangte Formalität rasch erledigte, zog sich die Angelegenheit hin. Das Gerät sei in der DDR unbekannt, erklärte der Sachbearbeiter. »Wir brauchen noch die technischen Unterlagen.« Neben der Bedienungsanleitung benötige die Post auch die Schaltpläne. Ich lieferte die gewünschten Unterlagen. Aber auch dann rührte sich nichts. Schließlich wurde ich aufgefordert, das Gerät zu einer technischen Prüfung zur Verfügung zu stellen. »Nur für ein paar Tage.«
Nach etwa zwei Wochen bekam ich den Anrufbeantworter zurück. Verbunden mit dem Hinweis, dass ich die Kosten für die technische Untersuchung zu tragen habe. Mit rund 1000 Mark werde ich wohl rechnen müssen. Ich protestierte. Die DDR, so argumentierte ich, habe sich auf diesem Wege neues technisches Wissen aus dem Westen verschafft. Dafür auch noch Geld zu verlangen, sei eine Zumutung. Auf den Anschluss des Gerätes musste ich weiter warten. Fast hatte ich die Hoffnung aufgegeben, den Anrufbeantworter in meinem Büro nutzen zu können, da bekam ich einen Anruf, die Sache gehe in Ordnung. Am nächsten Tag kam ein Techniker und schloss das Gerät an. Von einer Rechnung war nicht mehr die Rede. Den wahren Grund für die Verzögerung habe ich später erfahren. Vor mir hatte ein Korrespondenten-Kollege in seinem Ost-Berliner Büro einen Anrufbeantworter installieren lassen, der es ermöglichte, die gespeicherten Gespräche auch von auswärts abzuhören, etwa aus Hamburg oder Berlin (West). Das rief die Stasi auf den Plan. »Die haben hier rotiert«, sagte mir ein Eingeweihter. Man vermutete wohl bei meinem Gerät eine ähnliche Funktion und inspizierte sein technologisches Innenleben. Die Enttäuschung hätten sich die DDR-Experten sparen können. Mit einer Fernabfrage konnte ich nicht dienen.
Immer unter Kontrolle zu sein – das war für manche der in Ost-Berlin lebenden Westler auf Dauer schwer zu ertragen. Wenigstens im Urlaub wollten sie das Gefühl der Freiheit genießen. Möglichst weit weg von der DDR, der Stasi und ihren Spitzeln. Verständlich, dass der eine oder andere sich an die Stirn tippte, als wir ihnen erzählten, wir blieben auch in unseren Ferien im Lande. Mal an der Ostsee, mal in märkischen Gefilden. Etwa in Menz am Roofensee, wo das Dienstleistungsamt für Diplomaten und »bevorrechtigte Personen« ein »Ferienobjekt« unterhielt und gegen Valuta Häuser vermietete. Auch dort hatte die »Firma« ein sorgsames Auge auf uns.
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