Und sie brauchte auch nicht mehr zu sagen. Ich wußte, was sie meinte, und ich empfand genauso. Wir hatten exerziert und geübt, und Bob hatte mir die Verwendung seines eigenen Revolvers erklärt, der zwar ein englisches Fabrikat war, aber zweifellos genauso funktionierte wie der auf der Kommode. Aber die Waffen, die Ned uns gebracht hatte, waren Botschafter und Waffen zugleich.
Ich ging ans Fenster, und Mary sprach zu meinem Rücken.
»Es steht jetzt unmittelbar bevor, nicht wahr?«
»Unmittelbar oder gar nicht«, antwortete ich. Auch 65 hatte es unmittelbar bevorgestanden, aber das Jahr war gekommen und gegangen. »Aber wenn es kommt, dann ist es eine Frage von Wochen.« Ich muß mich wohlinformiert über diese Frage angehört haben, aber in Wirklichkeit wußten wir nichts, und ich bezweifle, daß die Männer in Cork City viel mehr wußten. Es war unwirklich, eine Art Phantasie, anders als Neds Revolver. Sogar die kronentreuen Zeitungen wußten mehr. Von ihnen hatten wir erfahren, daß Stephens und O’Mahoney beiseitegestoßen worden waren, von zum Handeln entschlossenen Männern. Von Männern, die für uns weder Namen noch Gesichter hatten, obwohl wir später natürlich die Namen von Kelly, McCafferty und all den anderen kannten. Doch bis zum Ende waren uns die Namen fremd, sogar als wir in Cork vor Gericht standen und hörten, daß wir auf ihren Befehl hin gegen Königin Victoria, ihr Königreich und ihre Person, bewaffnet rebelliert hatten.
Vage hörte ich – oder vielleicht spürte ich es nur – das Geräusch von Marys Bürste, die sie durch ihre dichten braunen Haare zog, ein vertrautes Geräusch.
»Unwirklich«, sagte sie als Echo meiner Gedanken. »Wenn wir abends darüber gesprochen haben, wir und Bob und Vincent, klang es alles großartig und unklar, wie eine Oper. Und jetzt bedeutet es einen Revolver auf einer Kommode.«
Die Straße unten war pechschwarz, nur die beiden Kirchtürme waren vage wahrzunehmen, als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Damals gab es in Kilpeder keine Straßenlaternen. Die Kneipen waren noch offen, aber sie waren hinter der Biegung oder zu weit entfernt die Straße hinunter, so daß ihr Licht nicht bis zu uns vordrang. Aber man konnte die Existenz der Stadt spüren, Läden und Markthalle, den weiten Marktplatz. Und hinter der Stadt Lord Ardmors Wildpark und die umliegenden Hügel. In der Wache schliefen die Constables oder saßen bei einer letzten Tasse Tee zusammen, und ihre Gewehre, die sogar noch tödlicher waren als Neds Revolver, lehnten an der Wand. In seinem Zimmer über Tullys Laden war Bob aller Wahrscheinlichkeit nach immer noch wach; viereckiges kahles Zimmer, Bett, Tisch, Bücherregal; vielleicht neben dem Bett eine tropfende Kerze. Im Laden unter ihm waren Waren und Lebensmittel in Fülle aufgehäuft, Tee und Kerzen und Handhaken. In einigen Stunden würde das Morgenlicht, frisch und voller Selbstvertrauen, die Dunkelheit davonspülen, und das Vertraute, das immer den Anschein von Dauerhaftigkeit hat, wieder herstellen. Aber jetzt füllte, für meine Augen und Sinne, Dunkelheit unsere Welt mit Erstaunen und bebenden Möglichkeiten.
[Patrick Prentiss]
Und als Patrick Prentiss, ein Jahr später im Winter 1905 in London, in seiner Wohnung in Pump Court die Geschichte des Fenier-Aufstandes schrieb, hatte auch er das Bild des verschlafenen Marktplatzes von Kilpeder im Kopf.
Es war ein fast so kalter Winter wie der, über den er schrieb, mit leichtem Schnee und grauen, bewölkten Nachmittagen, die Dunkelheit kam früh und war fast willkommen, denn in der Dunkelheit wandte die Stadt sich nach innen, hellen Zimmern und knisternden Kohlenfeuern zu. Im Garten hinter dem Hof war die Erde gefroren, und die blattlosen Zweige sahen brüchig aus, als könnten sie jederzeit abknicken.
Er war mit seiner Arbeit inzwischen gut in Gang gekommen, seine Notizbücher waren auf einem langen Tisch neben seinem Schreibtisch aufgestapelt und peinlich genau beschriftet. Zusammenfassungen von Unterhaltungen, geführt in Pensionen in Dublin oder London, in Bars und Restaurants in Boston und New York, mit Männern, für die, wie für Hugh MacMahon, der Aufstand ein strahlender Morgen in einem ereignislosen Leben gewesen war, und anderen, wie Devoy und Rossa in New York, die immer noch Verschwörer waren, für die das Drama noch längst nicht ausgespielt war: Devoy, schmallippig und sardonisch, grauer, kurzgeschorener Bart und Schlitzaugen, und Rossa, darüber im klaren, daß sein Leben zur Legende, zu Liedern geworden war, jedoch alkoholisiert und prahlerisch, Andeutungen von »Aktionen« seiner Kämpfer bis hinein in die 80er und 90er Jahre, ermordete Grundbesitzer, hingerichtete Denunzianten. Während er in durch Wachsamkeit verhärtete oder durch Whiskey verwässerte Augen blickte, hatte Prentiss versucht, einen lange vergangenen Frühling wiederzufinden.
An den meisten Tagen machte er um fünf Uhr einen Spaziergang durch die herabsinkende Dunkelheit, zum geschäftigen Strand, Straßenlaternen sanft wie Perlen, vom Nebel umhüllt, Schaufenster leuchteten; die Menge drängelte sich auf den Bürgersteigen; dichter Verkehr aus Droschken und Straßenbahnen. Oder er ging am Embankment, an der dunklen und öligen Themse entlang, auf Westminster Bridge und die Houses of Parlament zu, zinnenbesetzt und mit hohen schmalen Fenstern, voll vom Überschwang des 19. Jahrhunderts, verwandelt durch Londoner Nebel und Abendlicht. Verglichen mit diesem Anblick und dem Empire, zu dem er gehörte, schrumpfte das Ereignis, über das er schrieb, zur Bedeutungslosigkeit zusammen, besudelt von komischer Tollkühnheit und vom Whiskey angespornten Schwüren. Einst war in einer anderen Winternacht, 1884, ein Veteran des Aufstandes von 1867, William Lomasney – der »Kleine Captain«, der mit zwanzig Männern die Kaserne von Ballyknockane angegriffen und mit Nolan und den anderen in englischen Gefängnissen gelitten hatte – mit zwei Männern zu den Strebepfeilern der London Bridge unten am Fluß gerudert, wo sie sich in einem verpfuschten Attentatsversuch selber in Fetzen gesprengt hatten. Leichte, sinnlose Kratzer auf den Steinen der großen Stadt, fortgeschwemmt von dem Wasser des schweren, dunklen Flusses.
In seinem Club, dem Savile, bei einem Hammelkotelett, einem Glas, einer Partie Whist, wurde er oft nach seinem Buch gefragt und antwortete dann vage, es handle vom Leben in Irland im letzten Jahrhundert. »Großer Gott!« sagte dann sein Gesprächspartner. »Irland!« Aber nicht wenige hatten irgendwelche irischen Verbindungen – eine Angelhütte in Connemara, einen verrückten Vetter aus Kilkenny, der zur Armee gegangen war. Sie vergaßen immer wieder, daß Prentiss selber Ire war; weder sein Auftreten noch seine Aussprache hatten etwas Irisches. Wenn er die Karten austeilte, fiel ihm plötzlich Rossa ein, der sich über den Tisch beugte. »Niemand hat Ned Nolan so gut gekannt wie ich. Ich kannte ihn so gut wie diese Hand.« Er hielt sie zur Inspektion hin, und Prentiss staunte über ihre Biographie, eine Hand, die in einem englischen Gefängnis die Spitzhacke geschwungen, die Zündkapseln gehalten, die Briefe unterschrieben hatte, die Männer zum Morden geschickt hatten, Schüsse aus dem Hinterhalt, ein Stadthaus, das in die Luft fliegt. Oder er dachte an das erste Licht auf den Derrynasaggarts, als er von Kilpeder nach Killarney gewandert war, um das Gelände kennenzulernen, wie jeder gute Historiker das tun sollte, wobei das Licht zuerst trübe auf Stein und Stechginster fiel, dann heller wurde, Hügel zeigte, zu kahl zum Grasen oder um dort Häuser zu bauen, von Geistern besiedelt. Das fiel ihm ein, wenn er wartenden glatten Händen in makellos weißen Manschetten die Karten austeilte.
Aber später, vielleicht in der Droschke, in der er durch die Dunkelheit nach Hause fuhr, erinnerte er sich an Kilpeder, wie er es in der Ruhe des Morgens vom Eingang der Arms gesehen hatte, oder nachts, wenn er durch die von Falken bewachten Tore des Schlosses schritt, nachdem er den Abend beim alten Lionel Forrester verbracht hatte, und wenn das Mondlicht flach auf Markthalle und Obelisk schien. Entlang der Straße und dann auf der Landstraße nach Macroom bewegten sich schattenhafte Gestalten auf die Polizeiwache zu, eine Szene in der Glaskugel seiner Erinnerung, in London, ein Spielzeug.
Читать дальше