Nicht, daß er den Aufstand in Kilpeder für den Mittelpunkt der Rebellion von 1867 gehalten hätte; denn diese Rebellion, wie er inzwischen festgestellt hatte, hatte keinen wirklichen Mittelpunkt gehabt: Ein konfuses Oberkommando, Denunzianten, schlechter Austausch von Nachrichten, Schnee, verstreute, sinnlose Angriffe auf Kasernen, Stationen der Küstenwache, Eisenbahnen, Märsche und Gegenmärsche, demütigende Niederlagen, englische Gefängnisse, die am Ende des Weges warteten. Es war eher das Gegenteil, Kilpeder als typisches Beispiel, bevölkert mit Schauspielern, die Gesichter, Identitäten, Schicksale bekamen, indem er durch seine beiden Vergils von ihnen erfuhr, durch Mac-Mahon und Forrester, einem Schulmeister im Ruhestand und Lord Ardmors älterem Vetter, mit trockener, sardonischer Stimme.
Denn von den noch lebenden Männern, mit denen er gesprochen hatte, waren nur wenige im Märzschnee wirklich »draußen« gewesen. Viele waren bereits in den Razzien von 65 und 66 gefangen worden und saßen in ihren englischen Zellen oder in Dubliner Gefängnissen und warteten auf die Deportation – Devoy, Rossa, O’Leary, Luby. Die Rebellionen waren lokal geschehen, auf Befehl von damals wie heute schattenhaften Männern: Kelly, McCafferty, einigen französischen Colonels auf halbem Sold, die als Führer angeworben worden waren. Die, die draußen gewesen waren, erinnerten sich an Bruchstücke, Fragmente: Eine wilde, verwirrte Schießerei in den Bergen, aufgesetzte Wildwest-Tollkühnheit, tausend Männer, die in der Nacht in den Hügeln von Dublin warteten, hinter Tallaght. Aber warum ? Diese Frage machte ihm ununterbrochen zu schaffen. Warum waren diese Männer, verstreut über die Städte Munsters, von Kerry bis Waterford, mit ihren wenigen Flinten und Gewehren, mit ihren pathetischen handgemachten Piken, durch Schnee und ins massive Feuer marschiert, im Dienste einer flickenhaften Verschwörung?
Er fing jeden Tag früh mit der Arbeit an, um halb acht oder acht, wenn London zumeist noch schlief. Starker Tee, ungesüßt, dicht bei der Hand, die Hand bewegte sich, nicht ruhig oder gelassen, wie man sich vielleicht Macaulay oder Michelet bei der Arbeit vorstellen kann, sondern hektisch, ein Absatz oder zwei, dann wurde die Feder auf ihren Halter aus Silber und Onyx gelegt, ein Geschenk seines Vaters, des Dubliner Anwalts, dem Geschichte als Folge von Schriftsätzen erschien, sparsam aufgestellt, einsortiert, verschnürt. Während dieser Pausen durchwühlte er Ordner, Kontobücher, noch nicht aus den Notizbüchern übertragene Notizen, Unterhaltungen, Gerichtsprotokolle, Zeitungsausschnitte.
Das, was Historiker eines Tages (falls er seine Geschichte jemals vollenden würde) als die Rebellion der Fenier bezeichnen würden hatte lange vor 67 oder sogar 65 begonnen – ein Jahrzehnt früher, im Jahre 1856. Es hatte angefangen, als James Stephens – Veteran des Aufstandes von 1848 – nach Irland zurückgekehrt war, um dem Land auf den Puls zu fühlen. Monatelang war er durch die vier Provinzen gewandert, verkleidet als Bettler, Wanderarbeiter, Handelsreisender, hatte mit den Jungen und den Unzufriedenen geredet. Seinen 3000-Meilenmarsch nannte er ihn später; damals war er die legendäre »Nummer 1« der Fenier-Verschwörung. 1865, als er die Zügel der Rebellion in den Händen hielt, wurde er zum Helden der berühmten Flucht aus dem Gefängnis von Richmond; 67 war er ein entthronter Führer, verurteilt zu mehr als dreißig Jahren geschwätziger Erinnerung, inzwischen langbärtig, ein schäbiger Weiser, der ohne einen Penny in einer Vorortwohnung hauste.
Aber 1856, im Jahr seiner Wanderung, war James Stephens ein Irrlicht gewesen, niemals vergessen, vage erinnert. An seabhac , wurde er in den gälischsprachigen Gegenden genannt, »der Habicht«, und das ging in die Polizeiberichte als »Shook« ein, »Mr. Shook«. »Es wird berichtet«, schrieb der Sergeant von Castletown Bearhaven, einer Hafenstadt in einem Ausläufer West Corks, »daß Shook, der letzten Monat von der Gazette in Waterford gemeldet wurde, in dieser Woche Castletown besucht und sich im Laden eines Hufschmiedes namens Grady mit zwanzig Männern getroffen hat. Worüber er mit ihnen gesprochen hat, weiß man nicht, aber alle waren Männer niederen Standes, mit Ausnahme Gradys, der für seine ausschweifenden Gewohnheiten bekannt ist.« Es war ein Jahrzehnt nach der Hungersnot, dem großen Hunger, und Mr. Shook besuchte die am schlimmsten heimgesuchten Gegenden, Schull und Crosshaven und Skibbereen, wo er mit einem jungen Hitzkopf namens Jeremiah O’Donovan sprach, der behauptete, seine Abstammung erlaubte ihm, sich »O’Donovan Rossa« zu nennen.
Mit großen Schwierigkeiten suchte Prentiss nach einem Bild dieses frühen Stephens, unbesudelt von Klatsch, von Versagen. Er sah ihn bei Einbruch der Nacht, auf einem Hügelkamm, vor ihm ein nur unvollkommen vor den Seewinden geschütztes Dorf, Hütten, die zerstreut am trüben Wasser, vor einem dunkler werdenden Strand lagen. Verkleidet als Bettler, langer Übermantel, geflickte und staubige Stiefel, Segeltuchtornister auf den Rücken geschnallt, blieb er stehen. Hier, in diesem Dorf vor ihm, hatten zehn Jahre zuvor die Toten unbestattet in ihren Hütten gelegen, und hinter ihnen in den Feldern war die Kartoffelernte schwarz und stinkend verfault. Ihr Gestank hängt immer noch in der Luft, unbesiegbar von den auffrischenden Winden, die übers Wasser kommen. Er erinnert sich vielleicht an die Bauern von Tipperary im Jahre 1848, höflich und apathisch, verwirrt, als Smith O’Brien ihnen Widerstand predigte, dieser Patriarch mit der milden Stimme, der in die Rebellion geraten war und der ihnen an seinen zarten Fingern das unzählbare Unrecht abzählte, das ihnen zugefügt wurde. Vor der kleinen Menge räusperte ein Kätner sich, spuckte genau zwischen seine Füße, stupste seinen Nebenmann mit dem Ellbogen an. Ein Markttagsvergnügen, diese Herren aus Dublin in ihren Gehröcken, die eine wohlerzogene Rebellion predigten; Constables sollten auf den Straßen angehalten und entwaffnet werden, ohne daß ihnen ein Leid zugefügt würde. Der junge Stephens befand sich in der Menge, gehörte aber nicht zu ihnen, ein geladener Karabiner ruhte auf seinem Unterarm. Neben ihm O’Mahoney, Clanhäuptling der Comeraghs, ein Mann aus Tipperary, den sie kannten, aus kämpferischer Familie: ein großer gutaussehender Mann, dessen Rock offen hing und dem zwei Pistolen im Hosenbund steckten. O’Mahony hätte sie führen können, oder Stephens selber, nicht aber die Gentlemen aus Dublin. Er war nach wenigen Stunden beendet, dieser Aufstand von 48; ein Angriff auf eine Polizeiwache, ein Schußwechsel, zwei Männer tot auf einem Feld. Nie wieder, gelobten O’Mahony und Stephens in ihrem Pariser Exil, angeregt vom Gerede über blanquistische Barrikaden, dunkeläugige carbonari in schlecht beleuchteten Cafés in den Seitenstraßen des Boul’ Mich’. »Setzt die Dorfkämpfer ein« sagte Stephens, »nehmt Geiseln, reißt die Schienen auf.« Und schob O’Mahony die Flasche zu, und der, Abstinenzler in diesen Pariser Jahren, lächelte und schüttelte den Kopf. Aber später schrieb O’Mahony ihm aus New York über Hunderttausende von Hungersnotsiren, die an den Stränden von Boston und New York angeschwemmt worden waren, verwirrt, wütend, Bauern, die nicht an Ziegel und Asphalt und lärmende Pferdebahnen gewöhnt waren, ihre Erinnerungen klammerten sich an Hügel im Sonnenschatten, an Wollgras, an eine gewundene Straße, an Stimmen und Hitze winterlicher Schenken. »Hier gibt es ein zweites Irland«, schrieb O’Mahony. »Ungebrochen. Sie würden Geld schicken, und Männer. England hat sie von zu Hause vertrieben, und das wissen sie genau.« Sie brauchten ein Signal, schrieb er, sie müßten erfahren, daß ihr Land noch nicht tot ist.
Und deshalb begab Stephens sich auf seine Wanderung, auf der er in verstreuten, wirren Polizeiberichten seine Spur hinterließ, in der Erinnerung alter Männer, die die Zeit aufgeblasen und vergrößert hatte, durch den Stolz auf ihre eigene vergangene Jugend.
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