Marys Bruder Peter machte sich an Ronald heran, um seinen Standpunkt auszuloten. »Ich habe Mary vor über einem Jahr gefragt, mit mir zu gehen«, antwortete Ronald verdutzt. »Aber ich habe von ihr immer noch keine Antwort bekommen.«
Peter schickte seine Frau Sara ein drittes Mal zu Mary, um sie in dasselbe Zimmer einzuladen, in dem sie den unseligen Besuchen des Zimmermanns aus Fairmont getrotzt hatte. An Elies Stelle stand ein kurz angebundener Ronald Dornn.
»Warum hast du mir nicht geantwortet?«, fragte er.
»Wie denn?«, antwortete sie.
Mary erzählte ihre innersten Gefühle über die Annäherungsversuche von Elie und den Druck, den ihre Brüder auf sie ausgeübt hatten. Ronald war von ihrer Sanftheit entwaffnet. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich, als sie erklärte, dass sie sich so alleine und einsam fühlte wie er. Als Sara ihnen einen Teller mit Pflaumen anbot, aßen sie das Obst miteinander und vereinbarten, sich jeden Sonntag heimlich in Ronalds Haus zu treffen.
Nach einigen Wochen, als Mary im Keller unter der Gemeinschaftsküche Kartoffeln sortierte, war sie unerwartet alleine mit ihrem älteren Bruder, dem Hilfspastor, und wusste, dass Gott ihr eine Gelegenheit gegeben hatte, ihre Angelegenheit zur Sprache zu bringen. »Jake, du bist der einzige Vater, an den ich mich wenden kann«, begann sie. »Deshalb bitte ich dich um die Erlaubnis, Ronald zu heiraten.« Der dunkle Keller war ein ungewöhnlicher Ort für ein ernstes Gespräch. Doch falls ihr Bruder überrascht war, ließ er sich nichts anmerken, sondern warf weiter angefaulte Kartoffeln auf einen immer größer werdenden Haufen. »Ich weiß eigentlich nichts Schlechtes über ihn«, gab er schließlich zu und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich bin nicht für ihn und ich bin nicht gegen ihn.« Dieser Kompromiss war alles, was Mary brauchte.
Genau um 9.25 Uhr am Morgen verließ Ronald Dornn seine bescheidene Behausung in der nordöstlichen Ecke der Kolonie und ging mit flottem Schritt die sechzig Meter zu Sana Basels Haus, um seine Braut abzuholen. Alle Einwohner der Gemeinschaft klebten an ihren Fenstern, verfolgten seinen Gang und warteten auf das Zeichen, dem Brautpaar in die Kirche zu folgen. »Do kummt der Bräutigam !«, schrie eine der Küchenhelferinnen aus der Tür der Gemeinschaftsküche und kündete Ronalds Kommen an, während das Spülwasser des Frühstücksgeschirrs von ihren Unterarmen tropfte. Von oben bis unten betrachtete sie ihn, seine feierliche Haltung und wie er den perfekt sitzenden schwarzen Hochzeitsanzug trug, den Marys Schwester Katrina genäht hatte. Seinen »Waschzuber« hatte er gegen den traditionellen schwarzen Hut der Schmiedeleut eingetauscht, der bei Eaton in Winnipeg gekauft worden war. Mit 29 Jahren war Ronald älter als der durchschnittliche hutterische Bräutigam und acht Jahre älter als seine Braut. Als das Paar Hand in Hand aus Sana Basels Haus trat, stellte sich der Rest der Kolonie hinter ihnen in einer Reihe auf und folgte ihnen in die Kirche.
Die Kirche war spärlich, aber zweckmäßig eingerichtet. Vorne diente ein niederer Eichentisch als Kanzel, mit Plätzen auf jeder Seite für die örtlichen oder fremden Pastoren auf Besuch. Ronald und Mary nahmen, vom Mittelgang getrennt, ihren Platz einander gegenüber ein, während der Rest der Gemeinde schnell die übrigen Plätze füllte. Die Sonntagsschuhe klapperten auf dem blanken Linoleumboden, als die Frauen sich auf die rechte und die Männer auf die linke Seite setzten. Die Leute aus New Rosedale warfen verstohlene Blicke auf die Besucher aus den Kolonien Old Rosedale, Sturgeon Creek und Deerboine, denn sie waren neugierig, wen der Pastor eingeladen hatte.
Sam Kleinsasser, Marys Onkel, war der Hauptpastor der Kolonie Sturgeon Creek und hatte die Ehre, den Hochzeitsgottesdienst für seine Nichte zu halten. Zu Beginn der Trauung putzte Prediger Kleinsasser seine Brille mit einem feuerroten Taschentuch – dann schnäuzte er sich laut. » Liebe Brüder und liebe Schwestern. Wir haben uns wieder versammelt in dem Namen unseres Herrn und Heilands Jesus Christus «, begann er auf Hochdeutsch, der offiziellen Sprache für Gebete, Lieder und Predigten.
Über seine Drahtgestellbrille hinweg betrachtete er die Gemeinde und sein Blick fiel auf Sorah Kleinsasser, die seit vierzig Jahren seine liebe Frau war. Neben den anderen Frauen saß sie in einem Meer von bedruckten Baumwollstoffen und gepunkteten Kopftüchern. Sie war die Schwester von Marys verstorbener Mutter und war schon vor einer Woche in New Rosedale angekommen, um für Sana Basel zu nähen und zu flicken und um Federbetten und Kopfkissen anzufertigen, das übliche Hochzeitsgeschenk einer Mutter an ihre Tochter.
Vor Sorahs Ankunft hatte Sana Basel ihre Töchter angewiesen, einen großen selbst gemachten Teppich über das Kellerlein zu legen , einen niedrigen unterirdischen Keller, den jedes Haus besaß und in dem gekaufte Leckerbissen wie Süßigkeiten oder Kekse verstaut wurden. Das Kellerlein war mit einer Falltür verschlossen, die sich am Fuß von Sana und Paul Hofers Bett befand. Sorah war unheilbar neugierig und es dauerte keinen Tag, bis sie die Schatztruhe gefunden hatte. Die Schwerkraft half ihr beim Abstieg unter die Dielen, doch ihr ausladender Körperumfang machte den Ausstieg unmöglich. Als Paul Hofer sie in der viereckigen Öffnung festgekeilt vorfand, in einer Hand eine Packung Kekse, in der anderen Hand eine Packung Schokoladenplätzchen, errötete sie wie eine junge Verliebte, die in einer kompromittierenden Situation ertappt wurde. Doch inzwischen hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht wieder gefunden und thronte wie eine Herzogin zwischen Anna und Katrina, Marys Schwestern aus der Kolonie Deerboine.
Hinter Ronald, auf der anderen Seite des Mittelgangs, saßen Marys zwölf Brüder, düster wie zwölf Geschworene vor Gericht, mit ernsten Gesichtern, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Eine Woche zuvor hatten einige von ihnen die Wahl ihrer Schwester bei der Hulba , der Verlobungsfeier, beurteilt. Normalerweise wurde eine Hulba eine oder zwei Wochen vor der Hochzeit gehalten, und bei dieser Gelegenheit zeigte sich ein verlobtes Paar zum ersten Mal öffentlich. Zum größten Teil war es eine Gelegenheit zum Feiern, doch zur Hulba gehörte auch eine besondere Zusammenkunft, bei der die Männer die Würdigkeit des Bräutigams prüften. Der Freier musste Anhänger gewinnen, die für ihn sprechen, während andere Zweifel über seine Tugenden erhoben.
Diese alte Tradition ging auf das 18. Jahrhundert in Russland zurück, als die Heirat zwischen dem Sohn eines Korbmachers und einem hutterischen Mädchen verhindert wurde, weil er kein Handwerk gelernt hatte. Dieser hutterische Brauch war größtenteils eine reine Formsache und der Mann wurde im Allgemeinen in Rekordzeit zum Feiern mit seiner Auserwählten entlassen. Es war selten, dass eine Frau es sich in Bezug auf ihren künftigen Ehemann anders überlegte oder sich dem Druck besorgter Angehöriger beugte und die Hochzeit absagte. Sollte das doch geschehen, dann bekam der Mann einen Korb, der natürlich leer war, als Zeichen dafür, dass er von der Frau abgewiesen wurde. Die Anhänger dieses Brauches argumentierten, dass ein unangenehmer Start besser ist als lebenslange Trübsal.
Falls Ronald Zweifel über diese Zusammenkunft hegte, so zeigte er sie nicht, als Mary und er am Abend ihrer Hulba von Tür zu Tür gingen und sich als Paar vorstellten. Etwas früher an diesem Tag hatte Andreas Hofer, der Hauptpastor in New Rosedale, eine Flasche Roggenwhiskey und zwei winzige Glaskrügchen auf einem passenden Tablett in das Haus des Bräutigams geschickt. Andreas war einer der Ersten, die von Ronalds Absicht wussten, Mary Maendel zu heiraten, da Ronald seine offizielle Erlaubnis benötigte. Es war Tradition, dass der Hauptpastor das Hochzeitsdatum festsetzte und beschloss, welche Kolonien eingeladen werden.
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