Prediger Kleinsasser hatte seine offiziellen Pflichten in der Kirche beendet und wartete so begierig wie alle anderen auf ein gutes Mittagessen und ein Glas Wein. Er nahm den Ehrenplatz neben Ronald ein. Der Tradition nach waren die Plätze am Ehrentisch für den Vater und die Brüder des Bräutigams bestimmt, doch niemand von Ronalds Familie hatte kommen können. Als Ronald sich mit seinem Vater in Ontario in Verbindung setzte und ihm seine bevorstehende Hochzeit mitteilte, sagte Christian Dornn zu seinem Sohn: »Du heiratest den Feind.« Christian hatte nie etwas von Mary Maendel gehört, aber er war den Lehren von Julius Kubassek erlegen, der verärgert war, weil seine Gemeinde von der hutterischen Kirche abgelehnt wurde.
Marys Bruder Jake und ihr Schwager Dafit Wurtz, der Mann, den Katrina auf Drängen von Marys Vater hin aus Liebe geheiratet hatte, nahmen die beiden letzten Stühle am Ehrentisch ein. Jake beobachtete Elie Wipf, der mit zwei Buben , »jungen Männern« aus New Rosedale, am anderen Ende des Speisesaales stand. Einer von ihnen gab Elie einen freundlichen Klaps auf die Schulter und beide lachten. Elie schien seine Schlappe locker zu nehmen, doch ihr ungezwungenes Verhalten verärgerte Jake, der selbst mit seiner Enttäuschung über die Wahl seiner Schwester fertig werden musste.
»Lasst uns beten«, verkündete Dafit Wurtz, der neuer Jungpastor in der Kolonie Deerboine geworden war. Er stand auf und alle falteten die Hände und senkten den Kopf zum Gebet. Sobald die Hochzeitsgäste »Amen« gesagt hatten, stürzte ein Dutzend junger Männer durch die Schwingtüren in den großen Speisesaal. Sie trugen Mahagonitabletts voller Schüsseln mit dampfender Nudelsuppe herein. Bei Hochzeitsessen bedienten immer die Buben , und sie eilten hin und her und zwängten sich zwischen den Tischen durch und brachten zarte Stücke Rindfleisch, gekochte Kartoffeln, Kohl in Sahnesoße und knackige Dillgurken. Die jungen Männer verpassten keine Gelegenheit, mit den Mädchen aus den anderen Kolonien zu flirten, während sie das Essen brachten und Bier, Wein, Orangen- und Zitronenlimonade anboten.
Auf der anderen Seite der Hauptküche befand sich der Speisesaal der Kinder, Essenschul genannt, der mit fünfzig Kindern der Kolonie und ihren jungen Besuchern gerammelt voll war. Die Essenschul Ankela (Speisesaal-Oma) war so beschäftigt wie ein Koch zur Mittagszeit. Sie schöpfte Suppe aus, füllte die Brotkörbe nach und wischte verkleckerte Soße auf. Sie war froh, dass das Hochzeit G'schirr , das besondere, feine Hochzeitsgeschirr, für diesen ungebärdigen Haufen nicht vorgesehen war.
Mary war hungrig und wünschte, sie müsste nicht ihre Schüssel Suppe mit ihrem Ehemann teilen, bestand aber darauf, dass er den Anfang machte, und reichte ihm den Löffel, als er nach einem der frischen Brötchen griff. Tabletts voller Essen wurden in beide Speisesäle getragen, bis die Erwachsenen sich die Bäuche gefüllt hatten und die Tische sich unter dem Gewicht der Teller und Schüsseln bogen.
Marys Bruder Darius hatte sich gerade eine zweite Portion Rindfleisch genommen, als er aufstand, um seine Stiefmutter zu begrüßen, die aus Old Rosedale gekommen war. Als die Kolonie sich teilte, beschloss Rachel Gross Maendel zurückzubleiben, weil ihre Töchter Männer aus der Gemeinschaft geheiratet hatten. Doch sie hatte Darius gedrängt, nach New Rosedale zu ziehen, damit er mit seinen älteren Brüdern zusammen sein konnte. Er war ihr kleiner Liebling, und die Entscheidung war beiden schwergefallen.
Mary war erst dreizehn Jahre alt, als sie nach New Rosedale zog, und die Beziehung zu ihrer Stiefmutter war immer distanziert, aber respektvoll geblieben. Dennoch kam Rachel, um Zeugin bei ihrer Hochzeit zu sein.
»Mer sein recht für Kuchen!«, rief einer der jungen Männer, als er mit einem leeren Tablett die Küche betrat. Fünfzig Formen mit weißem Hochzeitskuchen standen auf den Tischen der Bäckerei, fertig um aufgetischt zu werden. Die glitzernden Kuchen sahen aus wie kleine, schneebedeckte, mit Sternen bestreute Seen. Sie waren am Vortag gebacken und mit weißem Zuckerguss und Sternchen verziert worden. Drei junge Frauen schnitten die großen runden Kuchen in gleichmäßige Scheiben und leckten sich dabei gelegentlich den Zuckerguss und die Sahne von den Fingern. Jede Familie bekam auch Kuchen mit nach Hause. Die dafür vorgesehenen Formen standen auf einem separaten Tisch, bereit, um am Nachmittag mitgenommen zu werden.
»Gott Lob und Dank für Speis und Trank.« Das Schlussgebet war das Zeichen für das Ende des Mittagsmahls und den Beginn einer kleinen Pause, in der die Dienen den Speisesaal aufräumen und die Köchin und ihre Helfer, die Nochesser, »Nachesser«, endlich zu Mittag essen konnten.
Kleine Grüppchen, manche mit Besuchern, kehrten nach Hause zurück, um die Kinder zum Mittagsschlaf hinzulegen und sich selbst kurz auszuruhen. Das Brautpaar und sein Gefolge waren in Feierstimmung und kehrten in Sana Basels Haus zurück, um selbst gebrautes Bier zu trinken und Musik zu machen.
Darius, unterstützt durch ein oder zwei Gläser Whiskey, unterhielt die Schar, die sich um den Kohlenofen drängte, mit ausgelassenen Darbietungen von »Froggy Went a Courtin'« und »Big Rock Candy Mountain«. Ein Junge mit pickeligem Gesicht, der sich etwas Mut angetrunken hatte, bat die Mädchen, »Red River Valley« zu singen, doch sie wollten kein gutes Lied an einen unterdurchschnittlichen Freier verschwenden. Einer seiner Freunde hatte Mitleid mit ihm und spielte sein Wunschlied auf der Harmonika.
Um halb zwei ertönte die Glocke und die Mitglieder der Kolonie gingen noch einmal die schneefreien Wege zurück zum Speisesaal. Von seinem Mittagsschlaf erfrischt, rückte Andreas Hofer mit einer Hand seinen schwarzen Hut zurecht und umklammerte mit der anderen sein hutterisches Gesangbuch, als er seiner Tochter Emma zum Empfang folgte. Als Hauptpastor war es seine Aufgabe, die Feier mit » Am dritten Tag ein Hochzeit war « zu eröffnen, ein Lied über die biblische Geschichte, in der Jesus mit seinen Jüngern bei einer Hochzeit war und Wasser in Wein verwandelte. Dem Lied folgten weitere traditionelle Hochzeitslieder: » O mein Jesu du bist's wert « und » Lass die Herzen immer fröhlich «. Eine Gruppe Frauen, so einheitlich gekleidet wie ein Mädchenchor, mit gepunkteten Tiechlen und gewagten karierten Schürzen, gab ein englisches Lieblingslied zum Besten: »Come and Dine«.
Die ganze Zeit wurden aus der Küche unaufhörlich Kartoffelchips, Erdnüsse, Orangen, Eiscreme und Kuchen hereingebracht. Die Kellner hievten die beladenen Tabletts über singende Köpfe hinweg und achteten darauf, nicht allzu viel Wein auf die weltvergessenen Sänger zu schütten.
Bis drei Uhr hatten die meisten Kinder einmal ihre Nase in den Speisesaal gesteckt, um einen flüchtigen Blick auf die Feststimmung und die entspannten Erwachsenen zu werfen, die mit vom Wein geröteten Wangen Geschichten aus ihrer eigenen Brautwerbung zum Besten gaben. Die Kinder wussten, dass in Kürze Tüten mit Süßigkeiten, Kaugummi und Erdnüssen verteilt wurden, und wollten die traditionellen Hochzeitsleckereien nicht verpassen. Alle Erwachsenen erhielten ebenfalls eine Tüte mit Süßigkeiten, doch für die Kleinen waren die Bonbons das Beste an der ganzen Hochzeit. Gegen fünf Uhr wurde das traditionelle Schlusslied » Nun ist die Mahlzeit ja vollbracht « mit Inbrunst gesungen, und damit war die Hochzeit offiziell beendet. Die Väter eilten noch zur Maschinenhalle der Kolonie, um einen Blick auf die neuesten John-Deere-Errungenschaften zu werfen, während die Mütter ihre Kinder für die Heimfahrt zusammentrommelten.
Eine kleine Gruppe von Angehörigen und Gratulanten verabschiedete sich von den Frischvermählten und bedrängte sie mit entsprechenden Äußerungen. »Jetzt bist du auch untergebracht«, bemerkte Rachel Maendel seufzend zu ihrer Stieftochter, als die ihre Wannick für die Heimreise zuknöpfte. » Moch's gut. Mach's gut«, zischte Ankela durch ihr störendes künstliches Gebiss und drückte Ronalds Hand beim Abschied.
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