Mancher ist nicht zufrieden, dass die Frage unbeantwortet bleibt. Aber was wäre die Folge, wenn wir die Warum-Frage befriedigend beantwortet bekämen? Wir könnten uns beruhigt zurücklehnen und dem Elend in der Welt zuschauen, weil ja alles seine Ordnung hat. Genau das ist die Folge in Religionen und Weltanschauungen, die behaupten, die Frage nach dem Warum des Leidens für jeden Fall befriedigend beantworten zu können. Jesus befriedigt diesen Wunsch nicht. Die unbeantworteten Fragen brennen wie offene Wunden. Jesus beruft uns, an der Linderung der Not mitzuwirken. Und er rüstet uns dazu aus.
Zwei tiefe Erfahrungen in meinem Leben haben mir geholfen, mit den brennenden offenen Fragen leben zu können.
Als Jugendpfarrer erlebte ich, dass der vierzehnjährige Sohn meines guten Freundes bei einer Fahrradtour in unserem Sommerlager tödlich verunglückte. In der Nacht musste ich die Eltern im Urlaub in Italien informieren. Ich holte mir am nächsten Morgen bei der Polizei den Schlüssel zur Totenzelle auf dem Friedhof der Stadt im Sauerland. Ich stand allein an der Bahre. Der Junge lag unter einer Decke. Ich enthüllte seinen verletzten Kopf. Nie hatte ich zuvor in meinem Leben eine so schreckliche Situation erlebt. Ich weiß nicht mehr, ob ich geweint habe oder gar nicht mehr weinen konnte. Eins habe ich nicht vergessen, weil es mich in dieser Totenzelle neben dem Leichnam des Jungen überraschte: Ich war ganz gewiss, dass der auferstandene Jesus gegenwärtig war. Selten war ich seiner Gegenwart so gewiss wie an diesem Ort und in dieser schweren Stunde.
Die zweite Erfahrung musste ich Anfang 1985 in einem sudanesischen Flüchtlingslager an der Grenze zu Äthiopien machen. In Wad Kauly hatte sich damals in wenigen Tagen ein Lager mit etwa 50 000 Flüchtlingen aus Eritrea gebildet. Ich besuchte dienstlich einen deutschen CVJM-Mitarbeiter, der mit dem sudanesischen YMCA arbeitete. Er nahm mich auf eine zehn Stunden lange Autofahrt über staubige Pisten zu diesem abgelegenen Lager mit. Es gab dort nur wenig Wasser. Keine hygienischen Einrichtungen. Noch keine ärztliche oder sonstige Versorgung. Die YMCA-Mitarbeiter hatten mit einer Hilfsernährung für kleine Kinder begonnen. Ich begleitete einen Mitarbeiter durch das Lager. Plötzlich stand eine Frau vor mir und streckte mir ihr verhungerndes Baby entgegen. Ich konnte nicht helfen. Sie ging enttäuscht weg.
Dann sah ich, wie eine andere Frau einen Hirsebrei auf eine Kochplatte strich. Unter der Platte brannte ein Feuer. Sie zeichnete in den Teig auf der Platte ein Kreuz. Brot des Lebens.
Die Nacht brach herein. Ich lag auf einem Feldbett unter freiem Himmel. Ich konnte nicht schlafen. Plötzlich hörte ich Singen. Ein YMCA-Mitarbeiter neben mir sagte: »Es sind Christen. Sie singen das Lob Gottes.« In meiner Verzweiflung, gequält von der Hilflosigkeit angesichts des sterbenden Kindes, sah ich die Frau vor mir, die das Kreuz auf das Brot gezeichnet hatte, und hörte das Lob Gottes aus der Tiefe der Not gesungen. In dieser Nacht hatte ich keine Antwort auf die quälende Frage nach dem Warum. Aber ich begriff: In diese schreckliche Welt hat Gott das Kreuz gestellt.
So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an den glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Johannes 3,16 (eigene Übersetzung)
Das hat Jesus selbst gesagt. Und sein Kreuz mitten im Schrecken der Welt ist das Orientierungskreuz. Gott rettet. Jesus ist der Retter. Und er rettet uns, damit wir Mitarbeiter seiner Liebe in dieser Welt werden. In Wort und Tat.
In dieser Nacht begriff ich: Gott wird mir keine beruhigenden Antworten auf meine quälenden Fragen geben. Aber er hat mich durch Jesus gerettet, damit ich ihm und den Menschen diene. Es sollen die Werke Gottes an den Menschen offenbar werden. Jesus will uns an seiner Arbeit in der Welt beteiligen. So wirkt seine Liebe. Das bringt uns zu einem großen, aber auch missbrauchten Wort: Liebe. Damit beschäftigen wir uns in der Beantwortung der nächsten Frage.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ] Frage 4 | Kann denn Liebe Sünde sein? Frage 5 | Gibt es Leben ohne Angst? Frage 6 | Kann man Glück lernen? Frage 7 | Hauptsache Gesundheit? Frage 8 | Gott vielleicht – aber warum Jesus? Frage 9 | Fängt der Glaube an, wo das Wissen aufhört? Frage 10 | Gehen Kamele durch ein Nadelöhr? Frage 11 | Glaube ja – Kirche nein? Frage 12 | Wie können Beziehungen gelingen? Frage 13 | Ist Jesus Friedensstifter oder Störenfried? Frage 14 | Ist die Bibel Gottes Wort? Frage 15 | Was hat die Zukunft mit schwarzen Schwänen zu tun? Frage 16 | Was kommt nach dem Tod? Anmerkungen
FRAGE 4
Kann denn Liebe Sünde sein?
Sünde – was ist das? Das versteht angeblich keiner mehr, behaupten vor allem Stimmen in den Kirchen. Darum sollte man den Begriff aus dem Wortschatz streichen. Das wundert mich. Denn von Diätsünden, Verkehrssünden, Umweltsünden ist dauernd und überall die Rede. Sünde ist also geradezu ein Modewort unserer Zeit.
Das heißt allerdings noch lange nicht, dass dieses Wort so gebraucht und verstanden wird, wie es nach der Bibel sein sollte. Wörter kommen mir vor wie die Einkaufswagen in den Supermärkten. Sie sehen alle gleich aus. Man nimmt sie und füllt sie mit den Waren, die man kaufen will. An der Kasse enthalten die Einkaufswagen dann sehr unterschiedlichen Inhalt. So ist es mit Wörtern. Sie klingen gleich, können aber unterschiedlichen Inhalt transportieren. Wenn der Inhalt schlecht ist, muss man nicht den Einkaufswagen dafür verantwortlich machen, sondern den Einkäufer.
Sünde ist ein Beziehungsbegriff. Das deutsche Wort bezeichnet Absonderung, Trennung. Die wichtigste Beziehung für das Leben jedes Menschen ist die Beziehung zu Gott, dem Schöpfer und Erhalter des Lebens. Ja, für jeden Menschen ist diese Beziehung die allerwichtigste. Denn jeder Mensch ist von Gott geschaffen. Keine Sekunde können wir leben, ohne dass Gott uns erhält. Das gilt auch für Gottesleugner. Dass Gott existiert, ist nicht davon abhängig, ob Menschen an ihn glauben. Weil Gott lebt, ist unser Leben aber immer von unserer Beziehung zu ihm bestimmt. Wenn diese Beziehung gestört ist, leidet unser Leben Schaden. Solche Beziehungsstörungen nennt die Bibel Sünde.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, was die Bibel sagt.
Gott hat uns zu seinem Ebenbild – zu seinem Gegenüber – geschaffen. Er hat uns in der Unterschiedlichkeit und Gemeinschaft von Mann und Frau geschaffen. Er hat uns als seine Geschäftsführer in der Welt beauftragt und gesegnet (1. Mose 1,27f.). Das wissen wir nur dadurch, dass Gott sich als Schöpfer offenbart hat. Die Offenbarung Gottes ist in der Bibel dokumentiert.
So aber gefällt uns Menschen diese Grundbeziehung nicht. Wir wollen Eigentümer, nicht nur beauftragte Geschäftsführer sein. Wir wollen selbstbestimmt leben. Wir behaupten: Mein Körper gehört mir. Meine Zeit gehört mir. Nur ich habe das Recht, darüber zu verfügen und zu bestimmen. Niemand sonst. Das aber ist Rebellion gegen Gott. Das ist die Hauptsünde.
Natürlich wollen viele Gott nicht völlig leugnen. Sie wünschen sich Gottes Hilfe und Segen. Aber sie meinen selbst am besten zu wissen, was gut für sie ist. »Höre auf dein Herz!«, heißt das verführerische und überzeugende Gebot heute.
Die Bibel beschreibt von Anfang an, was die Folgen dieser Rebellion sind: Kain beneidet und ermordet seinen Bruder Abel. Auf die Zerstörung der Gottesbeziehung folgt sofort die Zerstörung der Beziehung zwischen den Menschen. Wie eine losgetretene Lawine weitet sich die Zerstörung aus, wie es sich in Lamechs Rachewort zeigt (1. Mose 4,23f.). Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit enden in Zerstörung und Zerstreuung nach dem Turmbau zu Babel (1. Mose 11).
Auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst wird zerstört. Wer sich selbst an Gottes Stelle setzt, wird von Neid, Geltungssucht, Hass auf andere und oft auch auf sich selbst zerstört. Selbstsüchtig, habsüchtig und maßlos plündert er die Schöpfung Gottes, anstatt sie zu bewahren.
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