Im deutschen Sprachraum hat diese Vielfalt daher zu mannigfaltigen Definitionen der Sozialen Arbeit und ihres Gegenstandsbereichs geführt (vgl. Klüsche 1999; Otto/Thiersch 2011; Thole 2012; Erath/Balkow 2016; Hammerschmidt/Aner/Weber 2017 u. a.). Welche Definition soll nun gelten? Welche Kriterien sollen bei der Entscheidung für eine Definition angewandt werden? Die Definition soll nach unserer Auffassung von möglichst vielen Mitgliedern der Scientific Community der Sozialen Arbeit in Deutschland und auch international anerkannt sein. Nur so kann sie ein weites Dach, unter dem möglichst viele Theorien versammelt werden können, sein. Wir orientieren uns deshalb an der Definition der Sozialen Arbeit, die von der International Federation of Social Workers (IFSW) im Jahr 2000 in Montreal/Kanada beschlossen wurde. Unserer Meinung nach beschreibt diese Definition sehr viel präziser, was Soziale Arbeit ist, als die im Jahre 2014 beschlossene „Global Definition of Social Work“:
„The social work profession promotes social change, problem solving in human relationships and the empowerment and liberation of people to enhance well-being. Utilising theories of human behaviour and social systems, social work intervenes at the points where people interact with their environments. Principles of human rights and social justice are fundamental to social work“ (vgl. http://ifsw.org/policies/definition-of-social-work/).
Für die IFSW bezieht sich Soziale Arbeit in ihren verschiedenen Formen auf die vielfältigen und komplexen Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Ziel der Sozialen Arbeit ist es, Menschen zu befähigen, ihr gesamtes Potenzial zu entwickeln, ihr Leben zu bereichern und sozialen Dysfunktionen vorzubeugen. Soziale Arbeit ist auf Problemlösung und Veränderung ausgerichtet. In diesem Sinne sind SozialarbeiterInnen AnwältInnen für soziales Leben sowohl in der Gesellschaft als auch im Leben von Individuen, Familien und Gemeinwesen. Soziale Arbeit ist ein Netzwerk von Werten, Theorien und Praxis.
Die professionellen Methoden der Sozialen Arbeit basieren – nach Auffassung der IFSW – auf der systematisierten Sammlung von empirisch begründetem, aus Forschung und Praxisevaluation gewonnenem Wissen sowie aus lokalem und kontextspezifischem Wissen. Es wird die Komplexität von Interaktionen zwischen Menschen und ihrer Umwelt anerkannt sowie die Fähigkeit der Menschen, sowohl davon beeinflusst zu werden als auch selbst die vielfältigen biopsychosozialen Umweltfaktoren zu beeinflussen. Die professionelle Soziale Arbeit greift auf Theorien über menschliche Entwicklung, menschliches Verhalten und soziale Systeme zurück, um komplexe Situationen zu analysieren und individuelle, organisatorische, soziale und kulturelle Veränderungen zu fördern (vgl. a. a. O.).
Die Soziale Arbeit kann national und international auf eine lange Tradition der Theorieentwicklung zurückblicken und verfügt über Erkenntnismethoden und Wissensbestände, die in Praxis und Lehre/Ausbildung der Sozialen Arbeit genutzt werden (vgl. Müller 1988a,b; Soydan 1999; National Association of Social Workers 1995a,b,c; 1997; Hering/Münchmeier 2007; Wendt 2008a,b; Payne 2014 u. a.). Historisch wie auch wissenschaftstheoretisch gesehen ist die Soziale Arbeit – wie alle Wissenschaften – keine autonome, sondern eine relativ autonome Wissenschaft. Wenn wir davon sprechen, dass die Soziale Arbeit als Wissenschaft relativ selbstständig ist, dann meinen wir damit, dass sie in ihrem Werdegang mit anderen Wissenschaften eng verbunden und auch inhaltlich mit anderen Wissenschaften verschränkt ist, insbesondere mit den Human-, Sozial-, Rechts- und Geisteswissenschaften (vgl. Engelke/Spatscheck/Borrmann 2016, 176–180). Der Begriff „relativ“ ist hier also nicht als Abwertung zu verstehen, sondern hebt die Verbundenheit (relation) der Wissenschaften miteinander hervor. International ist es selbstverständlich, dass auch die klassischen Naturwissenschaften in diesem Sinne als relativ autonom angesehen werden (vgl. Mayr 1997). Hinsichtlich bestimmter Fragestellungen und ihrer Behandlung zeigen die Sozialwissenschaften sowohl untereinander als auch mit den Geisteswissenschaften enge Verknüpfungen und Gemeinsamkeiten. So werden zum Beispiel in den Geistes- und Sozialwissenschaften dieselben Personen und Werke der griechischen Philosophie als Gründer beziehungsweise als Wurzeln ihres „Stammbaums“ genannt. Sokrates, Platon und Aristoteles werden als Urväter beispielsweise der Philosophie (vgl. Störig 2016; u. a.), der Pädagogik (vgl. Reble 2009 u. a.), der Psychologie (vgl. Pongratz 1967 u. a.) und auch der Physik (vgl. Meÿenn 1997) angeführt. Das kann aber doch nur heißen: Jede dieser genannten Wissenschaften hat offene Grenzen und muss damit leben, dass sie sich von anderen Wissenschaften nicht trennscharf abgrenzen lässt. In jeder Wissenschaftsdisziplin gibt es außerdem pluriforme, heterogene und miteinander unvereinbare Auffassungen und Theorien – auch über ihr eigenes „Proprium“. Es muss deshalb nicht verwundern, dass die Auffassungen darüber und die Bewertungskriterien dafür, was Wissenschaft und was eine wissenschaftliche Theorie ist, auch innerhalb einzelner Wissenschaften verschieden sind und kontrovers diskutiert werden. Herkömmliche Wissenschaftssystematiken mit eindeutig markierbaren Abgrenzungen und Hierarchien sind daher äußerst fragwürdig (vgl. Wissenschaftsrat 2000). In diesem Sinne ist jede Wissenschaft relativ selbstständig und mit anderen Wissenschaften vielfach vernetzt und somit interdependent . Soziale Arbeit arbeitet als eine relativ selbstständige Wissenschaft mit anderen relativ selbstständigen Wissenschaften im Sinne gleichwertiger Partner zusammen, um der Entstehung sozialer Probleme vorzubeugen und bestehende soziale Probleme zu lösen oder zumindest zur Bewältigung dieser beizutragen. International bilden Wissenschaft, Praxis und Ausbildung zusammen eine Profession. In Deutschland ist das bei der Sozialen Arbeit nicht üblich, vielmehr werden die Praxis als Profession und die Wissenschaft als Disziplin voneinander getrennt oder einander gegenübergestellt (vgl. Thole 2012 u. a.). Wir folgen dem internationalen Vorgehen und für uns besteht die Profession Soziale Arbeit aus Wissenschaft, Praxis und Ausbildung (vgl. Engelke/Spatscheck/Borrmann 2016, 204 ff.).
Die Soziale Arbeit als Wissenschaft existiert bereits seit Jahrhunderten in unterschiedlichen Gestalten (vgl. Soydan 1999 u. a.). Dabei sind in der jeweiligen Zeit recht unterschiedliche Sichtweisen und Ursachenanalysen der sozialen Probleme und verschiedene Handlungsstrategien zu deren Bewältigung erarbeitet und oft auch in der Praxis umgesetzt worden. Für die wissenschaftliche Durchdringung wie auch für die Lösung gegenwärtiger sozialer Probleme können die Lösungen früherer Generationen fruchtbringend herangezogen werden. Häufig belehrt uns die Geschichte nämlich über die Folgen bestimmter Sichtweisen und Handlungsstrategien; sie können uns heute als Warnung vor oder auch als Ermutigung für bestimmte Lösungswege dienen. Aus diesem Grunde berücksichtigen wir Theorien, die immer noch von Bedeutung sind, vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart. Bei genauer Betrachtung zeigt es sich nämlich, dass die sozialen Probleme und die Ansätze, diese Probleme zu lösen, sich häufig über Jahrhunderte hinweg gleichen. Als Beispiel nennen wir den Umgang der Stadtverwaltungen im Mittelalter mit BettlerInnen und den Umgang der Länder mit Flüchtlingen und AsylbewerberInnen heute.
2 Zur Auswahl der Theorien der Sozialen Arbeit
Angesichts der Fülle und Vielfalt von Theorien der Sozialen Arbeit in Geschichte und Gegenwart ist unsere Auswahl zu begründen und die Kriterien für die Auswahl sind zu benennen. Theorien der Sozialen Arbeit zusammenzustellen, das ist kein neues Unterfangen . Es hat Tradition. Wir möchten an zwei Beispielen kurz zeigen, wie man Theorien aufgrund bestimmter Kriterien für eine solche Darstellung auswählen kann: Bereits 1932 hat Alice Salomon ein Buch mit dem Titel „Soziale Führer“ veröffentlicht, das sie so begründet: „Die Berührung mit sozialen Führern, ihrer Persönlichkeit, ihren Werken, ihren Ideen führt zu einem tieferen Verstehen von Menschheitsaufgaben, die zwar über die Jahrhunderte wechselnde Formen annehmen, aber in ihrem letzten Kern ewig und unveränderlich sind. Sie führt zu einem tieferen Verstehen der Pflicht zu gegenseitiger Hilfe und zum Wirken für ein Reich sozialer Gerechtigkeit in dieser irdischen Welt“ (Salomon 1932, 5). Salomon will zwar in erster Linie „Praktiker des sozialen Idealismus, nicht Theoretiker“ darstellen, doch hebt sie für die PraktikerInnen ausdrücklich hervor, dass diese auch über eine Theorie zur sozialen Frage verfügen (vgl. a. a. O.). Diese Theorien stellt Salomon in ihrem Buch auch jeweils dar. Mit ihrer Auswahl sozialer FührerInnen möchte Salomon einerseits die Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen der sozialen FührerInnen zeigen und andererseits Männer und Frauen verschiedener Länder und Arbeitsgebiete berücksichtigen. Die von ihr Ausgewählten sind: Franz von Assisi, Robert Owen, Florence Nightingale, Johann Hinrich Wichern, Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Otto von Bismarck, Ferdinand Lassalle, Ernst Abbe, Lew Tolstoi, Henry George und Jane Addams. Franz von Assisi (1181–1226) ist ausgewählt, um zu zeigen, dass soziale Nöte auch im 13. Jahrhundert vorhanden waren und dass das Führertum auf sozialem Gebiet vor allem „aus der Fähigkeit erwächst, sich in selbstständiger Weise mit den gesellschaftlichen Zuständen auseinanderzusetzen“ (vgl. Salomon 1932, 6). Bismarck hat sie genannt, weil er nach ihrer Auffassung in der Sozialversicherung ein großes, unvergängliches soziales Werk hinterlassen hat (vgl. a. a. O.).
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