Manche Titel für die Theorien und auch die Darstellungen der Theorien selbst geben die bei den Theorien real vorhandenen Wendungen, Widersprüche und Brüche nur unzureichend wieder. Wir haben aufgrund der Quellen und unter Zuhilfenahme der Sekundärliteratur versucht, ein durchgehendes Anliegen des/der AutorIn zu ermitteln und dafür eine dementsprechende Überschrift zu finden. Wir sind uns bewusst, dass eine Festlegung auf ein einziges, zentrales Thema den AutorInnen und ihren Anliegen nur bedingt gerecht wird.
Vor allem bei den neueren Theorien stehen wir vor der Herausforderung, dass diese oft in Zusammenarbeit von weit mehr als einer oder zwei Personen erstellt und weiterentwickelt werden. Hier haben wir versucht, prägende Hauptpersonen zu benennen und weitere relevante Beteiligte in ergänzenden Zitaten und Quellenangaben mit zu benennen.
Auf eine ausdrückliche kritische Kommentierung und Würdigung der einzelnen Theorien haben wir verzichtet. Das bedeutet nicht, dass wir die Theorien nicht kritisch sehen und reflektieren. Vorrangig ist es für uns, die AutorInnen mit ihren Theorien möglichst original zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir die Bedeutung der einzelnen Theorien für die Soziale Arbeit (vgl. Punkt 6 im oben dargestellten Leitfaden) erörtern, dann gehen damit selbstverständlich unsere eigenen Sichtweisen und die Einschätzungen unseres Umfeldes mit ein. Wir haben zwar versucht, uns möglichst auf nachprüfbare Kriterien (wie z. B. Anzahl, Auflagenhöhe und Verbreitung der Publikationen, Beachtung in der Fachliteratur, Häufigkeit der Nennung in Literaturverzeichnissen usw.) zu stützen. Es liegen jedoch fast keine sozialwissenschaftlichen Anforderungen genügenden Erhebungen zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Theorien der Sozialen Arbeit in der Praxis und der Ausbildung vor. Unser Bemühen um eine möglichst originalgetreue Darstellung mit entsprechenden Zitaten bedeutet nicht, dass wir die vorgetragenen Thesen teilen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, in diesem Studienbuch konzentriert eine Auswahl von Theorien der Sozialen Arbeit, die für die gegenwärtige Soziale Arbeit relevant sind, zu vermitteln. Die kritische Würdigung und Bewertung der einzelnen Theorien überlassen wir den LeserInnen (Anregungen dazu siehe Engelke/Spatscheck/Borrmann 2016, 316).
1 Die Bezeichnung „Soziale Arbeit“ verwenden wir als Begriff, der die historischen und aktuellen Traditionen von Armenpflege, Fürsorge, Caritas, Diakonie, Jugendhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit und Sozialpädagogik umfasst. Aus sprachlichen Gründen benutzen wir gelegentlich Sozialarbeit synonym für Soziale Arbeit; insbesondere dann, wenn ein Adjektiv erforderlich ist, wählen wir sozialarbeiterisch. In der Sozialen Arbeit Tätige bezeichnen wir als SozialarbeiterInnen, beziehen dabei aber auch SozialpädagogInnen, GemeinwesenarbeiterInnen, FürsorgerInnen usw. mit ein.
2 Bei der Darstellung des historischen Kontextes haben wir uns vornehmlich auf Zeitungsarchive und die Geschichtsbücher von Grundmann 1988, Kinder/Hilgemann 2005 u. a. gestützt.
Teil 1
Wir Menschen sehen uns selbst im Unterschied zu anderen Lebewesen als vernunftbegabte und unserer selbst bewusste Lebewesen an. Als vernünftige Menschen müssten wir eigentlich aus unserer eigenen Geschichte und der Geschichte anderer Menschen lernen. Doch dies tun wir nicht immer, auch nicht im Bereich der Sozialen Arbeit. Selten wird die Geschichte der Menschheit erforscht, um zu erfahren, wie früher jeweils mit sozialen Problemen umgegangen worden ist. Genauso selten befassen wir uns mit den theoretischen wie auch praktischen Lösungsversuchen unserer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, um daraus für unsere Zeit zu lernen. Wir scheinen eher auf die Gegenwart fixiert zu sein und vernachlässigen darüber unsere Einbindung in die Geschichte. Oft wird davon ausgegangen, dass unsere heutige Situation und die gegenwärtige Art und Weise, über soziale Probleme nachzudenken, einmalig seien. Unsere Lebenssituation hat es zwar so, wie sie jetzt ist und wahrgenommen wird, noch nie zuvor gegeben, dennoch ist sie nicht völlig neu. Wenn wir nach dem Neuen fragen, dann sollten wir immer auch das Alte sehen. Dann würden wir auch sehen, dass das Alte nie so alt gewesen und das Neue nie so neu gewesen ist, wie es scheint (Hans-Georg Gadamer). Die Gegenwart ist immer das Ergebnis vorhergegangener Ereignisse. Die Vergangenheit vergeht nicht, sondern wirkt in die Gegenwart und in die Zukunft weiter. Probleme, die sich in der Gegenwart stellen, folgen oftmals nicht zuletzt aus früher praktizierten Problemlösungen.
Wenn man in der Sozialen Arbeit aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen will, ist zu fragen, bei welcher Zeitepoche man bei einem solchen Rückblick anfangen soll. Hierüber gibt es, je nachdem, wie Soziale Arbeit definiert wird, kontroverse Auffassungen. Ein weiter Konsens besteht unter TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit allerdings darin, dass die berufliche Soziale Arbeit mit der vom Frühkapitalismus produzierten Massenarmut ihren Anfang genommen hat (vgl. z. B. Mollenhauer 1959/1987; Staub-Bernasconi 1986; Böhnisch/Schröer 2011). Aufgrund dieser Festlegung gehen viele AutorInnen vom 19. Jahrhundert als Beginn der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Praxis aus. Wir schließen uns allerdings der davon abweichenden Auffassung an, dass bereits mit dem Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit (um 1450 bis 1500), näherhin mit der beginnenden Urbanisierung und sich verändernden Produktionsbedingungen, entscheidende Bedingungen für gegenwärtige soziale Probleme und damit auch für die berufliche Soziale Arbeit als Antwort auf diese Probleme in Europa entstanden sind (vgl. z. B. Scherpner 1974; Mollenhauer 1987). Die Auflösung der hochmittelalterlichen Gesellschaftsordnung führte zu frühen Formen des Kapitalismus und der Industrialisierung. Die Wurzeln heutiger Sozialer Arbeit in Theorie und Praxis reichen – aus unserer Sicht – daher bis in das hohe Mittelalter (Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts) bzw. in den Beginn des Spätmittelalters im 14. Jahrhundert zurück (vgl. Sachße/Tennstedt 1980). Im 12. Jahrhundert wurden außerdem die europäischen Universitäten gegründet, an denen von Anfang an auch soziale Fragen bedacht worden sind (vgl. 1.1).
Ausgewählt haben wir sieben Autoren aus verschiedenen Ländern (Deutsches Reich, England, Frankreich, Italien, Schottland, Spanien/Niederlande, Schweiz) und aus unterschiedlichen Wissenschaften (Theologie, Philosophie, Pädagogik, Nationalökonomie, Recht, Medizin, Politik). Alle haben sich in ihrer Zeit mit der Lösung sozialer Probleme befasst und/oder waren aktiv daran beteiligt. Ihre Theorien und Programme haben für den europäischen Raum insgesamt wichtige Impulse für die Praxis der Sozialen Arbeit und für die Reflexion dieser Praxis gegeben. Die von uns getroffene Auswahl zeigt zugleich die disziplinären Orte, an denen in Europa Theorien zur Sozialen Arbeit entwickelt worden sind. Der Zeithorizont reicht vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Wir haben den zeitlichen und territorialen Kontext, in dem die Autoren gelebt haben, jeweils zu Beginn der Darstellung ihrer Theorien in der gebotenen Kürze beschrieben.
Auch wenn sich die hier vorgestellten Autoren nicht persönlich gekannt haben, haben untereinander vielfältige Verbindungen und Bezüge aufeinander bestanden. So hat zum Beispiel Vives (vgl. 1.2) die philosophischen und theologischen Lehrbücher von Thomas von Aquin (siehe 1.1) sehr gut gekannt und sich in seinen eigenen Arbeiten auch auf sie bezogen. Pestalozzi (vgl. 1.5) hat die Thesen Rousseaus (vgl. 1.3) zeitweise völlig übernommen und als Ausdruck seiner Verehrung seinen einzigen Sohn nach Rousseau benannt. Wichern (vgl. 1.7) kannte die Auffassungen von Pestalozzi. Smith (vgl. 1.4) hat die Arbeiten Rousseaus studiert und dessen Gedanken geschätzt und bei seiner eigenen Theoriebildung berücksichtigt. Malthus (vgl. 1.6) kannte als Zeitgenosse – mit denselben Studienfächern wie Smith – selbstverständlich die Werke von Smith und hat sich auch auf sie bezogen; beide haben in ihren Arbeiten – sehr verschieden – die Armengesetzgebung in Großbritannien kommentiert und bewertet sowie mit ihren Theorien auch beeinflusst.
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