Müller verweist auf die Gefahr dieser diffusen Allzuständigkeit. Weil Soziale Arbeit den Anspruch verfolgt, sich um die Alltagsprobleme des ›ganzen Menschen‹ in seiner jeweiligen Lebenssituation zu kümmern, gerate sie »in die Gefahr eines totalitären, weil prinzipiell grenzenlosen Zugriffs auf den Alltag ihrer Klienten zu kommen« (1991:112). Das ganzheitliche und alltagsnahe Handlungsverständnis der Sozialen Arbeit habe für die Klientenseite notwendigerweise ein Doppelgesicht: Es ermögliche zunächst, dass die Komplexität der belastenden Lebenslagen überhaupt sichtbar werden kann. Die Kehrseite sei, dass die Kontrollmöglichkeit des Klienten, welche Leistungen er konkret erwarten kann und welche nicht, ebenfalls diffus wird (vgl. ebd.:113). Das Aushandeln der Grenze der Intervention mit der Klientin ist für Müller deshalb ein wesentliches Strukturmerkmal der Intervention selbst (vgl. ebd.:114).
Fokus der Problembearbeitung
Wir haben festgestellt, dass die grundsätzlich umfassende Zuständigkeit für alle Aspekte der komplexen Problemlagen von Klientinnen ein Kennzeichen Sozialer Arbeit ist. Der Problembearbeitungsfokus ist dabei immer ein doppelter oder sogar dreifacher (
Kap. 2.2.2): Es geht um Unterstützung der Klienten zur Veränderung ihrer Person und Lebensweise einerseits, um Unterstützung zur Veränderung der Lebensbedingungen des Klienten andererseits. Zu diesem doppelten Fokus der fallbezogenen Problemstellung kommt außerdem die fallunabhängige und fallübergreifende Optimierung der sozialen Infrastruktur. Dieser doppelte (bzw. trifokale) Fokus hinsichtlich Aufgabenstellung impliziert, dass Professionelle der Sozialen Arbeit in der Lage sein müssen, grundsätzlich mit Situationen von Ungewissheit (Kontingenz) umgehen zu können: Ungewissheit, was der Fall ist und wo der Unterstützungsfokus liegen wird, Ungewissheit auch, was die eigene Zuständigkeit betrifft. Die »Bewältigung von Ungewissheit« gilt deshalb als Kern professioneller Handlungskompetenz (Olk 1986:151 zit. in Müller 2012:965; vgl. auch Gildemeister 1993:64; Dewe/Otto 2011:1148). Zugleich bleibt die Kompetenzdomäne der Sozialen Arbeit systematisch unscharf (vgl. Gildemeister 1992:211).
Geringe gesellschaftliche Anerkennung
Eine weitere Schwierigkeit in Zusammenhang mit der diffusen Allzuständigkeit ist das teilweise unklare gesellschaftliche Mandat (
Kap. 3.1.1) und die tendenziell geringe gesellschaftliche Anerkennung. So führt beispielsweise Thiersch aus, dass sich die Soziale Arbeit entwickelt habe aus der Institutionalisierung und Professionalisierung von Aufgaben, die traditionell in Familie und Nachbarschaft und in ehrenamtlichen Tätigkeiten in Vereinen oder der Gemeinde wahrgenommen wurden (
Kap. 2.2.2). Ob man wirklich institutionellen und professionellen Aufwand brauche für diese Aufgaben, die früher doch auch anders und unaufwändiger bewältigt worden seien, stehe immer wieder in Frage. Diese geringe Akzeptanz führe zu Selbstzweifel der Sozialen Arbeit (vgl. Thiersch 2002:210). Auch Galuske verweist auf die Schwierigkeit der Sozialen Arbeit, Kompetenzansprüche durchzusetzen, die solche des täglichen Lebens sind. Die Probleme, mit denen es die Soziale Arbeit zu tun habe, seien häufig so beschaffen, dass es insbesondere für Laien schwer zu durchschauen ist, warum es zu ihrer Lösung eine spezifische Kompetenz braucht (vgl. Galuske 2013:44 ff., Galuske/Müller 2012:591). Aufgrund der diffusen Allzuständigkeit sind also auch Mandat und Lizenz der Sozialen Arbeit nur teilweise klar.
Geringe Spezialisierung, fehlende Monopolisierung, eine systematisch unklare und nicht eingrenzbare Zuständigkeit sowie die Bewältigung von Ungewissheit sind konstitutiv für die Soziale Arbeit. Damit ist eine erste Strukturbedingung professionellen Handelns benannt. Diese gilt es bei den Ausführungen zu kooperativer Prozessgestaltung in Teil II zu berücksichtigen. So folgt aus dem Strukturmerkmal diffuser Allzuständigkeit u. a., dass in jedem Fall die Thematik zunächst eingeschätzt und ausgehandelt, dass die Frage der eigenen Zuständigkeit geklärt und die Grenzen der Intervention gemeinsam mit einer Klientin oder einem Klientensystem ausgehandelt werden muss, und dass die professionelle Unterstützung eines Klienten oft in Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften realisiert wird.
3.2.2 Doppelte Loyalitätsverpflichtung
Eine der Klassikerinnen der Sozialen Arbeit, Gertrud Bäumer, hat den Professionalitätsanspruch Sozialer Arbeit aus der Entwicklung von Institutionen abgeleitet (
Kap. 3.1.2) und gefolgert, dass die Institutionalisierung der Problembearbeitung – und damit der Organisationskontext – wichtige Aspekte eines Professionalitätsmodells Sozialer Arbeit sind. Diese institutionelle Einbindung beinhaltet zugleich spezifische Probleme.
Widersprüchliche Handlungslogiken
Soziale Arbeit ist gekennzeichnet durch eine starke Abhängigkeit von staatlicher Steuerung und direkter Einbindung in bürokratische Organisationen. Sie agiert im Rahmen eines weit verzweigten, komplizierten Sozialrechts (
Kap. 4.2), ist abhängig von staatlicher Finanzierung und zumeist eingebunden in bürokratische Strukturen mit bestimmten geregelten Verfahrensabläufen (vgl. Gildemeister 1992:210; Galuske 2013:51). Die Einbettung des professionellen Handelns in bürokratische Organisationen wird in der Literatur kritisch bewertet, und sie hat weitreichende Konsequenzen. Sozialarbeiterinnen agieren einerseits im administrativ-rechtspflegerischen Bereich sozialer Kontrolle bzw. sozialpolitischer Interventionen und andererseits – zumeist gleichzeitig – im Bereich der Beratung, Bildung und Begleitung. Nun folgt die professionelle Beratung und Begleitung allerdings einer anderen Logik und Rationalität als bürokratisches Handeln: Professionelles Handeln im Bereich der Beratung und Begleitung orientiert sich an der individuellen Problemlage und Lebenswelt und respektiert die Autonomie und Eigenwilligkeit der Lebenspraxis eines Klienten, und sie braucht Freiraum für flexible, individuelle Lösungen. Im Bereich der administrativ-rechtspflegerischen Praxis hingegen geht es um Norm sicherndes bürokratisches Rechtshandeln, das von einem hohen Grad an Standardisierung und Normierung gekennzeichnet ist und ›Gleichbehandlung‹ zu gewährleisten hat. Sozialarbeiterinnen sind also zwei unterschiedlichen Handlungslogiken gleichzeitig unterworfen – was ein handlungslogisches Dilemma ergibt (vgl. Dewe/Otto 2011:1139; Becker-Lenz/Müller 2009:66 f.).
Doppeltes bzw. Triple-Mandat
Eng verknüpft mit diesem strukturellen Widerspruch hinsichtlich Handlungslogik aufgrund der Einbindung in bürokratische Organisationen ist die Problematik der Loyalitätsverpflichtung der Professionellen der Sozialen Arbeit. Insbesondere in den 1970er Jahren wird die Funktion der Sozialen Arbeit und die Ambivalenz öffentlich organisierte Hilfe kritisch diskutiert: Diese kann demnach nicht nur als Hilfe verstanden, sondern muss zugleich auch als Kontrollmechanismus gegenüber den Hilfesuchenden begriffen werden. Die Professionellen der Sozialen Arbeit werden als Träger eines sog. ›doppelten Mandates‹ gesehen: Sie sind einerseits den Anliegen und Interessen der Hilfesuchenden verpflichtet, andererseits ihrem Auftraggeber, dem Staat bzw. der Kommune (vgl. u. a. Gängler 2011:609). Nun erwartet die Gesellschaft, welche definiert, welche Hilfe Soziale Arbeit leisten soll, zusammen mit dieser Hilfe auch eine Anpassung der Hilfeempfänger an die herrschenden Normen (z. B. Bereitschaft zur eigenen Existenzsicherung), und von den Professionellen der Sozialen Arbeit eine Kontrolle dieser Anpassung und gegebenenfalls eine Disziplinierung der Klientinnen. So sind die Professionellen der Sozialen Arbeit angehalten, »ein stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen der Klienten einerseits und den jeweils verfolgten sozialen Kontrollinteressen seitens öffentlicher Steuerungsagenturen andererseits aufrecht zu erhalten« (Böhnisch/Lösch 1973:368). Professionelle der Sozialen Arbeit sind beiden Seiten verpflichtet: der Gesellschaft als Auftraggeber und den Klientinnen und ihrer Lebenswelt. Diese Loyalitätsbindung einerseits dem hilfesuchenden Individuum und andererseits der Gesellschaft gegenüber wird als widersprüchlich angesehen – Thiersch hat sie einmal als »kontrollierte Schizophrenie« bezeichnet (Thiersch 1986 zit. in Gängler 2011:620). Müller verweist auf die Notwendigkeit, dass Sozialarbeiterinnen ihre Kontroll- und Sanktionsfunktionen dem Klienten gegenüber transparent machen und die dadurch entstehende Begrenztheit des Hilfeangebots offenlegen (vgl. 1991:119). Einzig Oevermann sieht in dieser doppelten Loyalitätsbindung ein grundsätzliches Professionalisierungshindernis: Wenn die beiden unterschiedlichen und sich widersprechenden Funktionsfokusse gleichzeitig wahrgenommen werden müssen – Widerherstellung der Integrität der Klienten einerseits, Herstellung von Gerechtigkeit im Rahmen der Rechtspflege andererseits –, dann folge daraus ein »schier unlösbares Grundproblem für eine kohärente Professionalisierung« (vgl. Oevermann 2009:118 f.). Die meisten Autoren hingegen begreifen den aus der Doppelaufgabe von Hilfe und Kontrolle und aus der doppelten Loyalitätsbindung entstehenden Widerspruch als konstitutives Strukturmerkmal der Sozialen Arbeit, sie postulieren einen reflexiven Umgang damit in der alltäglichen Handlungspraxis sowie eine Integration der doppelten Orientierung in das professionelle Selbstverständnis (vgl. u. a. von Spiegel 2011:595; Heiner 2004b:38 f.; Gildemeister 1997:217; Bommes/Scherr 2000:44 ff.). Demnach müssen Sozialarbeiterinnen stets im Schnittfeld dieser konfligierenden Erwartungen arbeiten und damit kreativ umgehen können, indem sie den eigenen Handlungsspielraum ausloten und Handlungsmöglichkeiten inszenieren.
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