»Woher hatten Sie Pferde?« fragte ich ihn einmal.
»Von den Bauern, Grundbesitzern und anderen Pferdezüchtern. Sie selbst boten uns ihre Hilfe an.«
Er spürte die wachsenden Möglichkeiten, mehr Macht zu gewinnen und hatte, wie er in der Zelle bekannte, einen heimlichen Wunsch: an der Spitze einer Reiter-SS-Einheit über die Hügel und Täler des Lippelandes zu galoppieren. Er, der Sohn eines Oberwachtmeisters, sollte unbedingt der Anführer sein; und hinter ihm die Grafen- und Grundbesitzersöhne und die künftigen Erben von ein paar reichen Kaufleuten.
An einem Sonntagmorgen herrschte in den Gefängnisfluren feiertägliche Ruhe. Stroop führte uns in der Zelle vor, wie man reitet. Auf angewinkelten Beinen schaukelte er gleichmäßig, zuerst im Schritt, dann im Trab und schließlich in scharfem Galopp. Er stieß kurze Rufe aus, schnalzte mit der Zunge, trieb sein Fantasieross mit der Reitgerte an, schnaubte und wieherte wie ein Pferd.
Stroop hatte nie, und das bedauerte er außerordentlich, den berittenen Einheiten der SS angehört. Aber er zählte im Fürstentum Lippe zu ihren Mitbegründern.
Die Rolle der SS-Reiterstaffeln im Dritten Reich ist bisher kaum untersucht worden. Nach meiner Meinung war die Zugehörigkeit zur Reiter-SS vorwiegend ein Ausdruck des Opportunismus von Leuten, die im politischen Spiel und im Wirtschaftssystem jener Zeit etwas zu verlieren hatten. Zur berittenen SS gehörten in der Mehrzahl Aristokraten und Großgrundbesitzer, die sowohl große Sportsmänner als auch Mitglieder der Parteielite waren. Die Reiter-SS stellte ein bequemes Sprungbrett für eine künftige politische Karriere in der Nazi-Hierarchie dar, sie bot aber auch die Möglichkeit, eine Verantwortung für den Nationalsozialismus zu umgehen. Stroop hatte dafür Verständnis, denn er wusste vieles, was mit Pferden zusammenhing. Eines Tages erzählte er mir, warum einer der Fürsten zu Lippe nach dem Krieg vom üblichen Schicksal der SS-Leute verschont geblieben war. Er erläuterte dabei den Hintergrund jenes Absatzes im Nürnberger Urteil, der im Kapitel über die SS bestimmt: »Nicht mit einbegriffen sind die Mitglieder der sogenannten Reiter-SS.«
Stroop behauptete, dass die Mitglieder der Reiter-SS deswegen aus der Zugehörigkeit zur SS herausgelöst worden sind, die in Nürnberg als verbrecherische Organisation eingestuft wurde, weil die »Internationale« der Aristokraten und Großgrundbesitzer auf diese Weise ihre zum Teil nur formell durch eine Zusammenarbeit mit Himmler kompromittierten Freunde schützen wollte. Ob Stroop Recht hatte, vermag ich nicht zu beurteilen.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1932 schwamm der 37-jährige Joseph Stroop auf einer Welle wachsender Anerkennung, er kommandierte und verteilte nach allen Seiten Instruktionen. Man quälte und prügelte brutal »all diejenigen Weichlinge ohne Rückgrat«, die man prügeln durfte.
»Bei uns in Detmold und im Fürstentum gab es nur wenige Juden«, erzählte Stroop. »Sie wurden bald hinausgeworfen. Sie fragen nach den Freimaurern? Ehrlich gesagt, habe ich die Freimaurer nicht angefasst, obwohl ich das Innere des Gebäudes kannte, in dem ihre Loge untergebracht war. Sie hatten zu enge Verbindungen zu den Fürsten, Grundbesitzern und unseren Plutokraten. Katholiken gab es in Detmold auch nur wenige. Wir versuchten, ihre ideologische Agitation auszuhöhlen. Die wissenschaftliche Tätigkeit von Frau Doktor Ludendorff hat uns da sehr geholfen.«
»Aber seien Sie mal ehrlich«, fragte ich ihn einmal, »als Sie in Detmold gegen die Katholischen vorgingen, fürchteten Sie nicht ein wenig Ihre Mutter, die doch eine aktive Katholikin war?«
»Ich wollte ihr keine Unannehmlichkeiten bereiten. Außerdem kannte sie viele Leute in der Stadt. Und schließlich sind ja die Katholiken in der Mehrzahl gute, wenn auch etwas verschwommene Patrioten. Natürlich rede ich nicht von Jesuiten und den verdammten Politikern des Vatikans in Deutschland. Aber im Allgemeinen haben wir die Detmolder Schöngeister, diese ganze marxistisch-katholischjüdische Bande ganz schön an die Wand gedrückt. Die hatten später nichts mehr zu sagen!«
»Aber wohl erst viel später, 1933?«, fragte ich.
»Ja. Wir haben sie 1933 endgültig fertig gemacht ...«
»Na, wohl nicht so ganz endgültig«, mischte sich plötzlich Schielke ein. »Wir brauchen hier in der Zelle doch nicht zu übertreiben! Obwohl die Nazis ...«
»Sie meinen wohl: wir Nationalsozialisten«, unterbrach ihn Stroop bissig.
»Sie haben Recht, Herr General«, gab Schielke gehorsam zu. »Aber heute bin ich kein Nationalsozialist, denn die Partei gibt es schon lange nicht mehr. Also wenn auch die Nazis die Sozialdemokraten, Jesuiten, Freimaurer, Juden und andere ideologisch fremde Reaktionäre rücksichtslos geduckt hatten, so ließ sich ein Teil der Bevölkerung doch nicht so ohne weiteres gleichschalten.«
»Weil es immer, in jedem Land, Gruppen von Unruhestiftern, Individualisten und Idioten gibt«, entgegnete Stroop heftig, »die nicht begreifen, dass nur die Treue zu einer Idee, eine auf eine einzige Person konzentrierte Führung und hundertprozentiger Gehorsam die Voraussetzung für die Existenz einer Nation sind. Treue, nur Treue, unbedingte Treue, das ist die wichtigste Eigenschaft eines wahren Menschen. ›Meine Ehre heißt Treue‹, dieser Satz, der im Ehrendolch und im Ehrendegen der SS eingraviert ist, besaß den edelsten Sinn für einen Staatsbürger.«
»Sie sprechen so oft von Treue«, meinte ich. »Treue ist eine schöne und seltene Eigenschaft. Aber wem soll man treu sein? Jedem Menschen, jeder Idee, jeder Sache? War es richtig, dass Sie Menschen die Treue hielten, die ihr Land in die Katastrophe geführt haben?«
Stroop reagierte erregt.
»Wir haben den Krieg nur deshalb verloren«, stieß er gepresst hervor, »weil die Machenschaften der reaktionären angelsächsischen, jüdischen, sozialistischen, kommunistischen, katholischen und freimaurerischen Internationale unser Volk zersetzt hatten. Wir waren zu liberal, wie es sich gezeigt hat ... Das Reich konnte nur unter Mithilfe eines Teils der deutschen Gesellschaft niedergeschlagen werden, mit Hilfe von solchen Canaris’ 5, Gördelers 6, Stauffenbergs 7, Thälmanns 8, Schumachers 9, Niemöllers 10, von Kluges 11, Paulus’ 12, Piecks 13, und solchen unverschämten norwegischen Bengeln wie Willichen Brandt 14und vielen anderen Kanaillen, die man hätte härter rannehmen müssen .« 15
VI. Kapitel
Lippe bekundet den »Willen des Volkes«
Im letzten Viertel des Jahres 1932 umwölkt sich die Stirn Hitler-Wotans. Nach dem Wahlsieg der NSDAP im Juli 1932 beginnt sich unter der deutschen Bevölkerung eine gewisse Ernüchterung breitzumachen. Die Beliebtheit der Braunhemden lässt merklich nach. Die Spannung im Lande wächst, da die Krise andauert und die Zahl der Arbeitslosen die Sechs-Millionen-Grenze erreicht.
Präsident Hindenburg löst das Juli-Parlament auf; im November 1932 finden zum zweiten Mal in diesem Jahr Reichstagswahlen statt. Sie verbessern die Lage der Kommunisten (100 Sitze im Reichstag) und der konservativen Rechten (54 Sitze). Die Katholiken erhalten 7 Mandate weniger als im Juli und die Sozialdemokraten 12. (Sie errangen insgesamt 121 Sitze.)
Am schlechtesten kommen die Nationalsozialisten weg. Im November 1932 verloren sie, im Vergleich zum Juli, mehr als zwei Millionen Stimmen und 34 Abgeordnetensitze. Die Partei Hitlers befindet sich am Rande eines gefährlichen Abgrunds, obwohl sie im Reichstag die meisten Mandate stellt (196 von insgesamt 584).
»Die Ursache für die Misserfolge der NSDAP«, erklärte Stroop entschieden, »war der Einfluss fremder Mächte, die das Volk zu degenerieren versuchten, außerdem die unmilitärischen Arbeitsmethoden unserer Partei, die allzu liberal und von linken Kräften durchsetzt war.«
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