»Die erste Kunde brachten ehemalige Kriegsteilnehmer«, berichtete Stroop.
»Wir waren stolz, dass ein Frontsoldat und Träger des Eisernen Kreuzes ...«
»Herr General haben auch das EK aus dem Ersten Weltkrieg«, warf Schielke ein.
»Ich erhielt das Eiserne Kreuz für den Frankreichfeldzug, allerdings II. Klasse. Adolf Hitler trug das EK I.«
»Aber bei Kriegsende war er Gefreiter, Sie dagegen Unterfeldwebel. Also hätte Hitler 1918 vor Ihnen strammstehen müssen«, meinte ich.
»Vor mir? Der Führer? Niemals!«, stotterte Stroop; er sah mich an, als hätte ich gerade eine Gotteslästerung begangen. Schielke pfiff leise durch die Zähne und grinste.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Stroop machte eine wegwerfende Handbewegung. Er verzichtete stets auf wörtliche Auseinandersetzungen, wenn er sich zwei Gegnern gegenübersah.
»Die ehemaligen Frontsoldaten brachten Hitler Sympathie, Verständnis und Hoffnung entgegen. Schließlich war er Kriegsteilnehmer, Germane und hasste die Judenkommune«, philosophierte Stroop. »Er sagte deutlich, was er wollte, machte keine großen Umstände. Das deutsche Volk brauchte konkrete politische Ziele und eine Bewegung , keinen fauligen Sumpf von Weimar. Der größte Teil des Volkes hatte genug von den kosmopolitischen, jüdischen Märchen und vom Liberalismus, der immer in die Anarchie führt. Das Volk verlangte nach soldatischer Tatkraft in Politik, Verwaltung und im Alltag. Eine Massenbewegung musste kommen, die zugleich in ihren Anlagen durch und durch gesund war.
Nach Stroops Vorstellung bedeutete »gesund«: nationalsozialistisch und straff geführt. Diese Eigenschaften besaß die Arbeit von Hitler, Göring und Himmler, als sie in München die Partei aufbauten. »Soviel mir bekannt ist, war Hitler gar nicht der Gründer eurer Partei. Er war Nummer 7 in der Reihenfolge der Beitritte zur Deutschen Arbeiterpartei, der späteren NSDAP, die von Drexler 1gegründet worden war«, erinnerte ich ihn.
»Das alles ist Propagandageschwätz, Herr Moczarski. Adolf Hitler war, ist und bleibt das erste Mitglied und der Begründer der NSDAP.«
»Aber Röhm ist doch noch vor Hitler in die Partei eingetreten und hat ihn, soweit mir bekannt, nicht nur zu Drexlers Partei, sondern auch zum militärischen Geheimdienst angeworben.«
»Adolf Hitler war niemals ein Agent des Geheimdienstes«, brauste Stroop auf.
»Ich weiß es nicht genau«, entgegnete ich. »Aber soweit ich mich in der Geschichte und den Methoden politischer Organisationen auskenne, musste Hauptmann Röhm Hitler zur Bekämpfung marxistischer Arbeitervereinigungen angeworben haben. Röhm, Invalide des Ersten Weltkriegs, aktiv und ehrgeizig, war damals zuständig für den politischen Geheimdienst der Reichswehr beim Armeestab in München.« 2
Darauf Stroop:
»Entschuldigen Sie, Herr Moczarski, aber Sie sind von der Lügenpropaganda der jüdisch-kommunistisch-angelsächsischen Presse angesteckt. Ich wiederhole: Der Führer war niemals ein mieser Agent des Geheimdienstes. Röhm konnte viel erzählen. Er war ein homosexuelles Schwein.«
»Und dafür wurde er im Jahre 1934 beseitigt?« 3
»Ja. Röhm war ein Verräter am Führer und an der Bewegung. Er pflegte abartige Veranlagungen, die eines Germanen nicht würdig waren, und es ist schade, dass dieser Päderast nicht schon früher liquidiert wurde!«
Schielke, der das Milieu der deutschen Homosexuellen gut kannte, mischte sich in das Gespräch ein. Er hatte lange genug bei der Sittenpolizei gearbeitet, wo Karteien über aktive und passive Päderasten geführt wurden. Er meine, man hätte nur ganz wenige Homosexuelle in der NSDAP so unsanft behandelt wie Röhm.
»Herr Schielke, mit ›unsanft‹ bezeichnen Sie Taten, die ein Berufspolizist schlicht Mord nennen sollte«, wandte ich mich an den Mann von der »Sitte«.
»Sie haben ja Recht, Herr Moczarski, regen Sie sich bloß nicht auf! Ich stelle also fest, dass nur wenige Parteigenossen, die Päderasten gewesen sind, ermordet wurden. Die anderen, und es waren ziemlich viele, blieben am Leben, sie arbeiteten, machten Karriere, es ging ihnen nicht schlecht. Manche dieser Homosexuellen, wie zum Beispiel der bekannte Tennisspieler Baron von Cramm, besaßen die Protektion, ja sogar den besonderen Schutz der Superbonzen von der NSDAP.«
Stroop unterbrach Schielke plötzlich mit folgendem Kommentar:
»Der Tennisspieler von Cramm war ein Vetter eines Fürsten zu Lippe von der Reiter-SS, denn die Mutter des Fürsten entstammte der Familie von Cramm ...« Aber es gelang Stroop nicht, die Diskussion in andere Bahnen zu lenken, denn Schielke fuhr ungerührt fort:
»Durch die Fürsprache Görings konnte von Cramm ins Ausland reisen, obwohl er, wie es die Vorschriften damals verlangten, eigentlich ins Kittchen gehört hätte. Ich führte damals die Untersuchungen in diesem Fall. Hätte man alle Homosexuellen unter den Nazis so behandelt wie Röhm, dann hätten Tausende von Parteigenossen wegen ›Besudelung der Partei‹ sterben müssen.«
Der Ausgang des Hitler-Putsches vom 9. November 1923, der unter Mitwirkung von Ludendorff organisiert worden war und mit einem Fiasko und den Toten vor der Feldherrnhalle endete, musste in dem Kriegsteilnehmer Stroop den Glauben an den Erfolg des Nationalsozialismus erschüttert haben. In der Zelle fantasierte er zwar einige Male von dem Heldenmut und den Verdiensten der Blutordensträger 4, nach meiner Meinung war es aber bloßes Deklamieren, sozusagen als Hinweis, dass er von Anfang an der Bewegung treu gewesen sei; oder es war einfach das Herunterleiern von Sprüchen, die man ihm im Parteiapparat jahrelang eingetrichtert hatte.
Andererseits waren die aggressiven Verteidigungsreden Hitlers vor dem Münchner Gericht im Februar und März 1924 durchaus dazu angetan, Stroop rasch wieder zu den Fahnen Hitlers zurückzuholen. In jenen Jahren bediente sich Stroop in seinem Privatleben der gleichen Methode, die Hitler nach Verlassen des Gefängnisses anwandte: Er ging den Weg eines scheinbaren Legalismus. Abwarten, nicht allzu sehr auffallen, sich nach außen hin gegenüber den gerade an der Macht Befindlichen loyal verhalten und im Stillen das Seine tun. Hitler fiel zwar immer wieder auf, doch gewitzt durch die Erfahrungen des Jahres 1923, strebte er die legale Übernahme des Reichskanzleramtes an. Denn politische Lügen, Tricks und Kniffe sind immer legal.
Aus den Erzählungen Stroops über jene Zeit schloss ich, dass er und seine Detmolder Freunde möglicherweise nur Angst hatten, allzu früh in die NSDAP einzutreten, obwohl die Mehrzahl von ihnen dank der Traditionen, in denen sie erzogen waren, gewiss zu den potenziellen Anhängern Hitlers gehörten. Hitler bedeutete für sie eine Offenbarung. Nur war die Lage vorläufig nicht so einfach.
»Seit 1918 regierte im Land Lippe die Sozialdemokratie«, berichtete Stroop. »Der Einfluss der Kommunisten wurde immer größer. Der Fürst zeigte liberale Neigungen. Die bei uns ansässige Freimaurerloge musste ernst genommen werden. Die Mehrzahl der Grundbesitzer fürchtete das Adjektiv ›sozialistisch‹ im Namen der Partei des Führers.«
Die NSDAP hatte trotzdem immer mehr Zulauf. In den Wahlen zum Reichstag 1930 errang sie überraschend 107 Sitze (1924 waren es 14, und 1928 12). Folgerichtig nahmen 1930 die politischen Aktivitäten im Freistaat Lippe zu. »Die bisherigen Parteien verstärkten ihre Tätigkeit und arbeiteten in einer Richtung, die für unsere Partei unerwünscht war«, meinte Stroop.
Er war gerade zum Vermessungsobersekretär ernannt worden. Nach außen hin befürwortete er Parteilosigkeit und »nationalen Objektivismus«. Er war für Uniformen und Soldatentum, was einem Durchschnitts-Deutschen immer gefiel. Politisch legte er sich nicht fest. Vielleicht fürchtete er seine bisherigen Vorgesetzten, deren Macht ebenfalls von germanischen Göttern stammte. Oder Stroop besaß ebenso wie der Fürst einen sechsten Sinn für Diplomatie und genügend Schlauheit, wie jener Konservenhersteller, dem Stroop in der Zeitung der ehemaligen Frontsoldaten zum Ruhm verholfen hatte.
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