E. Perspektiven zu Raum und Zeit
1. Die räumliche Aufteilung des Palasts
Die Beschreibung der Stadt Susa und ihres Palasts entspricht ganz den Vorstellungen von einer orientalischen Hauptstadt in der Antike, und die verschiedenen Bereiche sind demgemäß angeordnet. Die Architektur besteht aus zahlreichen Gebäuden, Höfen (5,1; 6,4), Gärten, Pavillons (1,5; 7,7–8), Toren (3,3; 4,2) und Gemächern, von denen einige für Frauen reserviert sind (2,14). Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen kann kompliziert sein. Um den Palast zu betreten, ist laut MT angemessene Kleidung erforderlich (4,4). Vom Harem aus sind die königlichen Gemächer nicht leicht zu erreichen, da man den Innenhof passieren muss (2,14; 4,11; 5,1), während der Zugang vom äußeren Hof aus kein Problem darstellt (6,4).
Dieses Schema von Ahasveros’ Palast folgt den Beschreibungen orientalischer Paläste in der griechischen Literatur. Die königlichen Gemächer, mitsamt den Bereichen, die den Frauen vorbehalten sind, stellte man sich als riesige Irrgärten vor. Eine Abfolge von Hallen, Höfen und Toren führt von außen zu den privatesten Bereichen. Die Verständigung zwischen den einzelnen Gebäudekomplexen kann eine Vermittlung erforderlich machen, und die Höfe können als Wartebereiche dienen. 230
2. Die chronologische Ordnung im Buch Ester
Die Zeitangaben im Text erlauben die Rekonstruktion eines in sich schlüssigen Ablaufs der Ereignisse, wobei bestimmte Ereignisse auf symbolisch bedeutsame Zeitpunkte fallen. Während Proto-Ester sich wenig für die Chronologie des Geschehens interessiert 231, zeugen die zahlreichen chronologischen Hinweise im MT und in der LXX von einer viel weiter entwickelten redaktionellen Konstruktion. Diese Hinweise strukturieren die Erzählung und verleihen ihr eine tiefere Bedeutung, indem sie bestimmte Ereignisse mit dem liturgischen Kalender verbinden und reguläre Zeitdauern festlegen, in denen verschiedene Begebenheiten gleichzeitig stattfinden können.
2.1. Die chronologische Ordnung im masoretischen Text
Die Ereignisse fallen in die Zeit zwischen Ahasveros’ drittem und zwölftem Jahr. Einige absolute chronologische Angaben erwähnen das Jahr, den Monat und den Tag. Das Jahr ist immer das Jahr X der Regierungszeit von Ahasveros. Der Monat wird durch eine Kombination seiner Ordnungszahl und seines hebraisierten babylonischen Namens gekennzeichnet: „Im ersten Monat, dem Monat Nisan“ (Est 3,7).
Des Weiteren macht der Text Angaben zur Dauer bestimmter Ereignisse 232sowie relative Zeitangaben, wonach ein Ereignis nach einem bestimmten Geschehen (2,1; 3,1) oder in unmittelbarer Folge auf ein anderes Ereignis (5,4; 6,1.10.14; 8,1) eintritt.
Die chronologische Ordnung des MT von Ester ist vollkommen schlüssig. Um ihre Logik und damit die Art und Weise zu verstehen, wie die Redaktoren ihr System entwickelt haben, ist von drei Dingen auszugehen: 1. Wenn eine Angabe keinen Monat oder Tag erwähnt, muss sie sich auf den ersten Monat des Jahres oder auf den ersten Tag des Monats beziehen. 2. Etwas, das „nach diesen Begebenheiten“ geschah (2,1; 3,1), geschah am folgenden Tag. 3. Der Text geht von einem Jahr mit zwölf Monaten zu je dreißig Tagen aus – einer irrigen Rechnung, die sich aber auch in der Fluterzählung wiederfindet, bei der fünf Monate 150 Tagen entsprechen. 233
Chronologische Ordnung des MT von EsterNarrative Eröffnung, der König sitzt auf seinem Thron in Susa (1,1–3) |
3. Jahr / 1. Monat / 1. Tag |
Erstes Festmahl mit einer Dauer von 180 Tagen (1,4) |
3. Jahr / 1.–6. Monat |
Erstes Festmahl mit einer Dauer von sieben Tagen (1,5) |
3. Jahr / 7. Monat / 1.–7. Tag |
Waschtis Weigerung, Beschluss und Erlass der Verstoßung |
3. Jahr / 7. Monat / 7. Tag |
Schönheitswettbewerb, Beginn mit der ersten Versammlung junger Frauen |
3. Jahr / 7. Monat / 8. Tag |
Esters Erscheinen vor dem König und ihre Krönung (2,16) |
7. Jahr / 10. Monat / 1. Tag |
Dies findet vier Jahre, zwei Monate und 23 Tage nach dem ersten Eintreffen der jungen Frauen statt (2,3.8). |
Esters Krönungsbankett (2,18). Dauer von sieben Tagen (// 1,5.9) |
7. Jahr / 10. Monat / 1.–7. Tag |
Zweite Versammlung junger Frauen (2,19) |
7. Jahr / 10. Monat / 8. Tag |
Esters letztes Erscheinen vor dem König (4,11) |
11. Jahr / 12. Monat / 13. Tag |
Dies findet zur Zeit der Anzeige der Intrige gegen den König (2,21–23), am 13. Adar, statt, ein Jahr vor dem Termin des Massakers an den Juden durch deren Feinde. |
Hamans Amtseinführung und Thronbesteigung (3,1) |
11. Jahr / 12. Monat / 14. Tag |
Ziehen der Lose zur Bestimmung des Termins der Katastrophe für die Juden (3,7) |
12. Jahr / 1. Monat / 1. Tag |
Dies findet vier Jahre, zwei Monate und 23 Tage nach dem zweiten Eintreffen der jungen Frauen statt (2,19). |
Ausgabe des Erlasses gegen die Juden (3,12) |
12. Jahr / 1. Monat / 13. Tag |
Esters Fasten (4,16). Dauer von drei Tagen |
12. Jahr / 1. Monat / 13.–15. Tag |
Esters Erscheinen vor dem König und ihr erstes Gastmahl (5,1–8) |
12. Jahr / 1. Monat / 15. Tag |
Esters zweites Gastmahl, Hamans Tod, Mordechai (7,1–8,2) |
12. Jahr / 1. Monat / 16. Tag |
Esters Erscheinen vor dem König und der Gegenerlass (8,3–17, bes. 8,9) |
12. Jahr / 3. Monat / 23. Tag |
Dies findet siebzig Tage nach dem Erlass gegen die Juden statt. |
Massaker an den Feinden der Juden (9,1.17–19). |
12. Jahr / 12. Monat / 13.–14. Tag |
Purimfest zur Feier des Massakers (9,17–19.21) |
12. Jahr / 12. Monat / 14.–15. Tag |
Besonders auffällig ist, dass der MT die Hauptereignisse der Erzählung (3,12–8,2) mit dem Auszug aus Ägypten parallelisiert, da sie zur Zeit des Pessachfests geschehen. Im MT von Est 3,12 wird der Erlass von Haman am 13. Nisan (dem ersten Monat) verkündigt. Die folgenden Ereignisse schließen sich bruchlos an, sodass das Gespräch zwischen Mordechai und Ester am selben Tag stattfindet. Das dreitägige Fasten dauert vom 13. bis zum 15. Nisan, und Esters Vorsprechen beim König trägt sich am 15. Nisan („am dritten Tag“, vgl. 5,1) zu. Das Fasten ersetzt somit die Rituale der Vorbereitung auf Pessach und betont die radikale Bedrohung, die über dem Judentum schwebt. Darüber hinaus entspricht Esters Erscheinen vor dem König, das am 15. Nisan die Rettung einleitet, dem Exodus aus Ägypten, der am selben Tag stattfand (Ex 12). 234Hamans Tod tritt am folgenden Tag ein (5,8; 7,2).
Der zweite Schlüsseltermin ist der 13. Adar, womit der Triumph der Juden über ihre Feinde auf das gleiche Datum fällt wie der Triumph der Makkabäer über Nikanor (1 Makk 7,39–50; 2 Makk 15,1–36). Das zeitweise Fernhalten von Ester (4,11) erinnert an dasselbe dramatische Datum. Weil vor 4,11 Esters letztes Erscheinen vor dem König in 2,22 erwähnt wird, kann man schließen, dass Ester seit dem Aufdecken der Intrige der Eunuchen nicht mehr zum König gerufen worden war. Da Hamans Beförderung „nach diesen Begebenheiten“ erfolgte (3,1), muss sie am 14. Adar stattgefunden haben. Mordechai bleiben also sechzehn Tage, sich nicht niederzuwerfen (3,4), bevor im zwölften Jahr am 1. Nisan das Los geworfen wird (3,7).
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