Im makkabäisch-hasmonäischen Kontext kann die Beschreibung von Ahasveros’ Gesetzgebungspraktiken als indirekte Kritik an seleukidischen Gesetzgebungsverfahren verstanden werden. Die Regierungsweise mithilfe von Erlassen, die im Buch Ester angesprochen wird, ist typisch für die Praktiken hellenistischer Herrscher. 204Darüber hinaus weist die kritische Darstellung der Politik des Reichs deutliche Parallelen zur Kritik an seleukidischen Entscheidungen, insbesondere von Antiochos IV. auf, wie sie in den Büchern der Makkabäer zu finden sind. Wie in Ester 3 lehnt der König das örtlich gültige jüdische Gesetz ab (1 Makk 1,41–42), haben ehrgeizige Persönlichkeiten von hohem Rang – Simeon und Jason – mit den schädlichen Maßnahmen des Königs (2 Makk 3,4–7; 4,7–9) zu tun, und außerdem spielen finanzielle Fragen eine wichtige Rolle bei den Auseinandersetzungen. Schließlich stellt man fest, dass in Ester 8 und 9, wie in den Büchern der Makkabäer, der Griff zur Gewalt ein vorteilhaftes Ergebnis ermöglicht.
5.1.3. Nichtjüdische Charaktere
Die Darstellung der nichtjüdischen Charaktere ist im MT nicht einheitlich. Es finden sich dunkle Individuen, aber nicht alle Nichtjuden sind Feinde der Juden.
Der KönigGanz oben auf der Leiter steht der König, dem es vor allem um sein Ansehen geht (1,4 usw.). Er verfügt über eine Verwaltung, die in der Lage ist, seine unwiderruflichen Entscheidungen durchzusetzen. Er zeigt sich besorgt um das Wohlergehen seiner Frau und scheint bestrebt, gerecht zu regieren (5,2–3; 6,3; 7,3–8). Er wird jedoch leicht wütend und trifft Entscheidungen unter schlechtem Einfluss und Rat (1,13ff.; 2,2ff.; 3,8ff.). Ester schafft es, ihn zu beeinflussen. 205
HamanHaman, der höchste Minister, ist der am negativsten porträtierte Charakter. Der Text zeigt seinen Stolz mit viel Ironie (6,6) und stellt ihn als extrem gefährlich dar. Da er die Abläufe bei Hof kennt, wird er wütend und zögert nicht, zu erschreckenden Maßnahmen zu greifen (3,6 usw.). Auch wenn das Herrschaftssystem des Reichs für das Unglück der Juden eine wichtige Rolle spielt, ist es Haman, der sich an der Wurzel der dramatischen Ereignisse befindet. Die späten Glossen des MT machen einen Angehörigen des Volks der Amalekiter zum Feind der Juden schlechthin. 206
Die DienerAuch andere Charaktere werden auf ironische und kritische Weise dargestellt. Memuchan ist der betrunkene Urheber einer absurden Rede (1,16–20); die Pagen schlagen ein ausuferndes Verfahren vor (2,2); und die Diener am Tor des Königs setzen Mordechai unter Druck, sich den Gebräuchen anzupassen, bevor sie ihn schließlich denunzieren (3,3–4).
SereschHamans Frau Seresch unterstützt Haman in seiner verächtlichen Haltung (5,14), bestätigt am Ende jedoch den unausweichlichen Erfolg der Juden (6,13).
Hegai Hatach HarbonaMehrere Nichtjuden unterstützen die Juden: der Eunuch Hegai (2,9ff.), Esters Dienerinnen, Hatach (4,5.6.9.16) und Harbona (7,9).
WaschtiEs scheint, dass die Darstellung von Waschti sie auf die Seite der Guten bringt. Wie Mordechai widersetzt sie sich einem königlichen Befehl und wird wie er gerügt.
Das VolkDie Mehrheit des Volks von Susa wird wohlwollend dargestellt. Sie sind bestürzt, vom Unglück der Juden zu erfahren (3,15b), und freuen sich über den Erfolg von Mordechai (8,15b). Die wahren „Feinde der Juden“ in Susa und im übrigen Reich bleiben im Vergleich zur Bevölkerung des Reichs (800 in Susa [9,12.15] und 75.000 anderswo [9,16]) in der Minderheit. Die überwiegende Mehrheit der Bewohner des Reichs sind keine glühenden Antisemiten. Einige unter ihnen werden sogar Juden (8,17b).
5.2. Als Juden und Jüdinnen in einem fremden Land leben
Das Buch Ester gebraucht den Begriff יהודי („Jude“) 58-mal als Bezeichnung für das Volk der beiden Helden.
5.2.1. Jüdisch sein im Buch Ester
Im MT ist das Volk von Mordechai eines von mehreren zerstreuten Völkern im Perserreich (3,8.13; 4,3; 8,5.9). Die Zerstreuung der Juden hinderte sie jedoch nicht daran, als eine mit einem geografischen Ort verbundene ethnische Gruppe angesehen zu werden.
Jude – JudäerDer hebräische Begriff יהודי kann als „Jude“ oder als Bürger von Judäa, „Judäer“, übersetzt werden. Die Verbindung mit dem Königreich Juda wird in 2,6 ausdrücklich erwähnt, wonach Mordechai ein Nachkomme deportierter Judäer ist.
VolkDarüber hinaus aber sind die Juden durch eine gemeinsame Herkunft verbunden: Sie sind ein עם („Volk“; vgl. 2,10; 3,6.8; 10,3) und ein זרע („Geschlecht“; vgl. 6,13; 9,27.28.31; 10,3). Das hindert Nichtjuden nicht daran, sich ihnen anzuschließen: מתיהדים („und viele aus den Völkern des Landes judaisierten sich“; vgl. 8,17). Und „alle, die sich ihnen anschlossen“ (הנלוים) – die Übergetretenen – beteiligten sich an den Ritualen von Purim (9,27).
RechtssystemNicht zuletzt ist es ein eigenes Rechtssystem, das mit dem Judentum in Verbindung gebracht wird: „Ihre Gesetze unterscheiden sich von denen aller anderen Völker“ (3,8). Obwohl das Buch Ester weder den Sabbat, die Beschneidung, die Anbetung von JHWH noch die Kaschrut erwähnt, deuten einige Elemente des Buchs auf jüdische Gesetze hin. Als Jude gehorcht Mordechai dem Verbot der Niederwerfung (3,2.4), und auch die Riten von Purim sind spezifisch jüdisch (9,20–23.27–28). Und der MT spielt auf die Riten von Pessach an, indem er mit seiner chronologischen Ordnung die Ereignisse der Kapitel 3–8 in jene Zeit legt, in der Pessach gefeiert wird.
EthnosJüdisch zu sein entspricht nach dem Buch Ester dem, was man in der griechischen Zeit als Ethnos bezeichnet: eine ethnische Gruppe, die mit einem Territorium verbunden ist und sich durch Bräuche auszeichnet, durch bestimmte Regeln, die mit gesellschaftlichen Beziehungen und der Religion in Zusammenhang stehen. Wenn sie sich außerhalb ihres Gebiets niederlassen, gelten die Angehörigen eines Ethnos weiterhin als Teil ihrer heimischen ethnischen Gruppe. Darüber hinaus können Einzelpersonen sich aber auch freiwillig dieser Gruppe anschließen. 207
5.2.2. Die eigene Identität verbergen oder enthüllen
Zu Beginn der Erzählung hebt der MT hervor, dass Ester und Mordechai ihre Identität verstecken. Bei zwei Gelegenheiten hatte Mordechai Ester angewiesen, ihre Identität nicht offen zu zeigen (2,10.20). Dieser Hinweis, der von der protomasoretischen Redaktion stammt, deutet an, dass es gefährlich sein kann, sich in einem fremden Reich als Jude zu bezeichnen oder seine ethnische Zugehörigkeit bekannt zu machen. Deshalb kann es zu Beginn der Erzählung klug erscheinen, seine Identität zu verbergen, um die eigene Sicherheit und das Auskommen nicht zu gefährden. Als das Werk redigiert wurde, entsprach dies der Haltung jüdischer Gruppen, die versucht waren, sich der Hellenisierung anzuschließen.
Auch wenn es wirklich riskant war, zeigt das Verhalten der jüdischen Helden im Rest der Erzählung, dass es in den Augen der Redaktoren auf die Dauer nicht haltbar ist, seine jüdische Identität zu verbergen. Mordechai weigert sich, sich niederzuwerfen und gibt den Dienern des Königs sein Jüdischsein preis (3,4). Und als der Erlass zum Massaker an den Juden verkündet ist, fordert er Ester auf, sich für ihr Volk einzusetzen (Kap. 4), was dazu führt, dass sie dem König enthüllt, welchem Volk sie angehört (7,4). In den letzten Kapiteln schließen sich alle Juden zusammen, führen ein Fest zur Feier ihres Sieges ein, und ihr Ansehen weckt überall Respekt (8,17). Ihre Identität bleibt nicht mehr im Verborgenen.
5.2.3. Mordechai: Die Ablehnung von Normen des Imperiums 208
Die erste Strategie des Widerstands gegen die imperiale Herrschaft wird von Mordechai entwickelt. Er lehnt es ab, den inakzeptablen Anweisungen einer fremden Macht Folge zu leisten. Aufgrund seiner jüdischen Identität weist es Mordechai zurück, sich vor dem höchsten Minister niederzuwerfen (3,2–4). Die Weigerung, sich vor einem Menschen niederzuwerfen, ist eigentlich ein Kennzeichen der traditionellen griechischen Kultur. Sie wird in Ester aber als etwas typisch Jüdisches dargestellt. 209Aus der Perspektive der Redaktoren verweigert Mordechai die Niederwerfung aus den gleichen Gründen, wie die Gläubigen in den Büchern der Makkabäer es ablehnen, wegen der Bestimmungen des hellenistischen Imperiums ihre traditionellen Lebensgewohnheiten aufzugeben (2 Makk 6–7 usw.).
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