Die Redaktoren von Ester, vor allem jene, die für die protomasoretischen „Extras“ des Werks verantwortlich sind, sind ausgezeichnete Kenner der biblischen Kultur. Auf ihr Konto gehen zahlreiche Anspielungen und Verweise auf biblische Werke. 194Wenn sie Esters Schicksal behandeln, beziehen sie sich auf weibliche Figuren, die mit den Königen aus der Gründungszeit Israels verbunden sind. Wenn sie vom Leben in der Diaspora sprechen, spielen sie auf andere Diaspora-Erzählungen an, zum Beispiel auf die von Josef und Daniel. Wenn sie die Rettung des Volkes thematisieren, beziehen sie sich auf den Exodus. Und wenn sie schließlich von einem bewaffneten Konflikt sprechen, ziehen sie das Beispiel des makkabäischen Konflikts heran.
Im MT von Ester kommen mehrere Themen zur Sprache. Diese helfen, die Perspektive der protomasoretischen Redaktoren besser zu verstehen, die, wie die diachrone Analyse zeigt, den Inhalt und die Form des MT stark beeinflusst haben.
5.1. Der Blick auf das Reich und das Verhältnis dazu
Die Ester-Erzählung kann gelesen werden als Reflexion über die gesellschaftspolitischen Bedingungen, denen Juden in einem fremden Reich ausgesetzt sind, und über die wünschenswerten Maßnahmen, die sie ergreifen sollten. In Wirklichkeit geht es der sehr kritischen und ironischen Beschreibung des Perserreichs darum, das Herrschaftsgebaren der hellenistischen Königtümer zu brandmarken, mit der die Redaktoren des Werks während der makkabäisch-hasmonäischen Zeit konfrontiert waren. Reich und Königshof werden als extrem reich und mächtig dargestellt. 195Deren Opulenz wird verspottet.
Die Beschreibung der Festmähler bei Hofe verbindet den griechischen literarischen Topos vom königlichen persischen Gelage mit dem besonderen Charakter der Bankette, die von herrschenden Eliten oder herausragenden Euergeten der hellenistischen Zeit in den Städten abgehalten werden.
Der Blick auf diese Tafelgewohnheiten ist kritisch und ironisch. Die königlichen Festmähler von Est 1,3–8 machen die Exzesse der Mächtigen sichtbar. Sie dauern 187 Tage. Der Luxus und die Anzahl der Gäste sind eindrucksvoll. Besonders betont wird auch der Prestigegewinn, den ein Festmahl für den Gastgeber (1,3–8) oder den wichtigsten Gast (5,11–12) bedeutet. Das geschieht allerdings nicht ohne Ironie, denn nicht immer gelingt die Steigerung des Prestiges: Der König wird während eines Festmahls von Waschti gedemütigt, und Haman wird mit einer Einladung zu einem Mahl geehrt, das zu seiner Hinrichtung führt (5,11–12; 7,9–10). Der Weinkonsum wird bei Ahasveros’ Gelagen nur nachlässig kontrolliert. Wein wird laut 1,8 in unbegrenzten Mengen ausgeschenkt, bis der König und seine Berater ihren Anstand verlieren, Probleme übertreiben und unangemessene Lösungen vorschlagen (1,10–22). Darüber hinaus ermöglicht es der exzessive Weingenuss Ester, während der von ihr arrangierten Gastmähler Einfluss auf den König und Haman auszuüben (Kap. 5 und 7). Zusätzlich zu diesen Elementen, die typisch für griechische Darstellungen persischer Gastgelage sind, sind an die ganze Stadt gerichtete Einladungen (1,5), der Ausschluss von Ehefrauen vom Mahl und die Organisation ganz bestimmter Bankette (1,9) in hellenistischen Städten üblich. Obwohl der MT des Esterbuchs diese Mahlgewohnheiten kritisch betrachtet, nehmen die Juden hier – im Gegensatz zu dem, was man in Judit (Kap. 12) und Daniel (Kap. 1) lesen kann – teil und profitieren sogar davon.
In der Zeit, als das Buch Ester entstand, ließen die Mahlgewohnheiten grundlegende Fragen aufkommen für die jüdische Elite in nichtjüdischen Städten, aber auch in hellenisierten Städten wie Jerusalem am Ende des dritten und Anfang des zweiten Jahrhunderts v. u. Z. Das offizielle Stadtbankett war ein wichtiger Ort des gesellschaftlichen Lebens, und der Verzicht auf die Teilnahme daran konnte zum Ausschluss aus dem öffentlichen Leben führen. Einige Juden dieser Zeit weigerten sich, an griechisch-römischen Festmählern teilzunehmen; 197andere hingegen nahmen teil, fragten sich aber, unter welchen Bedingungen ihre Teilnahme daran möglich sein würde. 198
Der MT von Ester ist an diesem Punkt nicht eindeutig. Die Heldin nimmt an königlichen Festmählern teil, zugleich aber erscheinen diese Tischgewohnheiten lächerlich. Darüber hinaus erwähnt der Text nichts vom Vorhandensein ritueller Elemente oder fester Nahrung. 199In den Banketten am 14. und 15. Adar (Est 9,21.22b) schließen die protomasoretischen Redaktoren mit einer Definition eines jüdischen Festmahls. Es besteht aus fröhlichen Festgebräuchen, die sich radikal von denen königlicher Gelage unterscheiden. Der Gastgeber hat keine herausragende Stellung. Der gegenseitige Austausch von Speisen definiert eine Praxis des egalitären Gebens und Empfangens, die auf die jeweils besonderen Ernährungsgewohnheiten der Beteiligten Rücksicht nimmt. Die Gabe von Geschenken an die Armen zeigt, dass sich alle verpflichtet fühlen, sich um die Schwachen zu kümmern. Für die Redaktoren des Esterbuchs während der makkabäisch-hasmonäischen Zeit dürfte es so gewesen sein, dass in jüdischen Städten und Gebieten nur ein Festmahl solcher Art legitim war.
5.1.2. Das Recht und die Erlasse 200
Die königlichen Erlasse (דת ; auch פתגם oder ספרים) spielen in der Erzählung eine wichtige Rolle. Drei Erlasse werden in aller Kürze erwähnt (1,8; 2,8.12; 4,11). Ihre Ursachen und Folgen werden indessen ausführlich beschrieben: Nach Waschtis Weigerung setzt ein Erlass sie ab und verpflichtet alle Frauen, ihre Ehemänner zu ehren (Kap. 1); nach Mordechais Weigerung, sich niederzuwerfen, ordnet ein Erlass die Vernichtung der Juden an (Kap. 3); und schließlich führt die Unmöglichkeit, den Vernichtungserlass aufzuheben, zu einem weiteren Erlass, der die Juden ermächtigt, sich selbst zu verteidigen (Kap. 8). Diese Anordnungsverfahren laufen der Beschreibung nach auf ziemlich ähnliche Weise ab. In allen drei Fällen beginnt das Verfahren als Antwort auf eine Schwierigkeit. Nach der Diskussion wird der Erlass formuliert und vom König für rechtsgültig erklärt, bevor er von der effizienten Verwaltung des Reichs überall verbreitet wird.
Die masoretische Darstellung dieser Verfahren macht deutlich, dass das Reich keineswegs gut funktioniert. Der Erlass, der das Ziel hat, Frauen zur Ehrung ihrer Ehemänner zwingen, bringt Informationen über die Demütigung des Königs in Umlauf und macht ein langwieriges Verfahren zur Auswahl einer neuen Königin erforderlich. Darüber hinaus ist er von einer Gruppe betrunkener Männer (1,8.14) verfasst worden, die sich aus Furcht vor Äußerungen ihrer Frauen (1,18) der unwahrscheinlichen Vorstellung hingeben, dass von der Sache eine Gefahr für die Allgemeinheit (1,17) ausgehe. Der Erlass zur Vernichtung der Juden wird verkündet, nachdem der König von einem gereizten hohen Beamten beeinflusst wurde. In 3,8–9 sagt Haman nicht, dass er besorgt sei, sondern äußert Halbwahrheiten über ein Volk, das er nicht beim Namen nennt. Zudem ist das Argument hinsichtlich partikularer Gesetze im Rahmen des persischen und hellenistischen Denkens keineswegs stichhaltig, denn die Koexistenz örtlicher Gesetze mit dem Recht des Königs war hier immer gebräuchlich. Und schließlich resultiert der Erlass in Kapitel 8, der zu einem Bürgerkrieg führt, aus der Funktionsstörung eines Herrschaftssystems, das nicht in der Lage ist, die negativen Folgen seiner eigenen Verordnungen in den Griff zu bekommen. 201
Die Art und Weise, wie Ahasveros Gesetze macht, steht im Gegensatz zu den wichtigsten biblischen und altorientalischen Gesetzessammlungen. Obwohl Ahasveros König ist, wird seine Gesetzgebung nicht als Ausdruck des Willens der Götter oder des Respekts für die Weltordnung dargestellt. 202Andererseits entspricht die Tatsache, dass die Hervorbringung dieser Gesetze auf bestimmte Umstände reagiert und im Rahmen einer Debatte unter Männern zustande kommt, der griechischen Praxis. In der griechischen Welt gibt es zahlreiche Gesetzesreformen, und die Ursachen, Mechanismen und Verdienste der Gesetzgebungspraxis machen ein wichtiges Gebiet der Reflexion aus. 203In der jüdischen Literatur treten Reflexionen über die Bedeutung von Gesetzen und ihre Kontextgebundenheit erst in der hellenistischen Ära in Erscheinung – etwa in den Büchern der Makkabäer, in denen Kombattanten sich mit der Einhaltung des Sabbats im Kriegsfall auseinandersetzen (1 Makk 2,41).
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