Und auch wenn „glückliche Zufälle“ auftauchen, handelt Gott in der Erzählung nicht allein. Die Courage und das Handeln von Ester und Mordechai bleiben zentral. In dieser Erzählung, in der Gott nicht erwähnt wird, werden zwei theologische Ideen vorgebracht. Erstens: Rettung braucht das Mitwirken der Menschen. Ester und Mordechai können sich nicht mit der Hoffnung auf ein Eingreifen Gottes zufriedengeben, sondern müssen handeln. Und zweitens: Gottes Handeln und Wille sind nicht äußerlich sichtbar, sondern müssen in den Verhältnissen entdeckt werden.
D. Literarische und thematische Merkmale der anderen Textfassungen von Ester
1. Proto-Ester: Aufbau und Themen 226
Wie wir gesehen haben, bietet Proto-Ester einen Text, der den Kapiteln 1,1–8,2 des MT nahe, aber etwas kürzer ist. Die Anordnung der Episoden entspricht weitgehend den parallelen Abschnitten des MT. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Proto-Ester nach Hamans Hinrichtung nichts von Rückschlägen weiß: Der Erlass zur Vernichtung der Juden wird einfach aufgehoben. 227Somit kommt es in Proto-Ester weder zur Bekanntmachung eines Gegenerlasses noch zum militärischen Konflikt mit den Feinden der Juden noch zur Einführung eines Fests zur Feier des jüdischen Sieges.
In Proto-Ester ist das persische Imperium reich, mächtig und gut organisiert. Als Erben der griechischen Vorstellungen von der persischen Welt berichten die Redaktoren von Proto-Ester von erstaunlichen Gepflogenheiten: Es werden luxuriöse Festmähler organisiert, und es gibt einige ungewöhnliche Gesetze wie etwa das Verbot des Vorsprechens beim König, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Proto-Ester betont jedoch die Lasten und Absurditäten der Gebräuche am Hof des Großkönigs deutlich weniger stark als der MT: Die Meinungen der königlichen Berater verraten weder persönliche Interessen noch burleske Züge hinsichtlich eines befürchteten Aufstands der Frauen (Kap. 1); das Vorgehen bei der Suche nach einer neuen Königin bleibt im Rahmen des Vernünftigen – es müssen nicht gleich sämtliche junge Frauen einbestellt und einem ganzen Jahr der Vorbereitungen unterzogen werden (Kap. 2); und Mordechai kann direkt mit Ester in Kontakt treten (Kap. 4).
Proto-Ester insinuiert auch nicht, dass die Funktionsstörungen in der Verwaltung des Persischen Reichs eine maßgebliche Rolle beim Zustandekommen des Erlasses spielen, der die Juden in ihrer Existenz bedroht. Für Proto-Ester liegt die Verantwortung im Wesentlichen bei Haman, den man, sobald er vor dem König angeklagt wird, rasch aus dem Verkehr zieht und seinen Erlass aufhebt. Der König ist alles in allem nicht das Spielzeug eines unnachgiebigen Systems. Sein Charakter wird sogar positiv dargestellt. In den Kapiteln 6 und 7 spricht er bedächtig und zeigt sich wohlwollend gegenüber Ester und Mordechai. 228
In Proto-Ester ist Mordechai kein königlicher Beamter. Zu Beginn der Erzählung verbergen Mordechai und Ester ihre jüdische Identität nicht. In dieser Version der Ester-Erzählung sind die Juden nicht von vornherein aufgrund ihrer jüdischen Herkunft bedroht, und die Frage der freiwilligen Assimilation jener Juden, die in der Nähe der Macht leben, wird nicht problematisiert.
Bevor sie bedroht sind (Kap. 3), verhalten sich Ester und Mordechai ganz wie andere Mitglieder der persischen Gesellschaft. Proto-Ester spricht nicht davon, dass die Verbindung von Ester und Mordechai weiter besteht, nachdem sie Königin geworden ist. Mordechai scheint sich mit Esters Schicksal bei Hofe nicht zu beschäftigen, und niemand hat irgendeine Verschwörung zu melden.
In Proto-Ester scheinen Ester und Mordechai etwas weniger entschlossen und „heroisch“ zu sein als im MT. Proto-Ester thematisiert ihre Gefühle und Ängste bei zahlreichen Gelegenheiten. Mordechai und Ester haben Angst, wenn sie Haman gegenübertreten müssen (4,16 und 7,2), und die Königin zögert, bevor sie ihn beim König anzeigt (7,6).
Proto-Ester hebt göttliches Handeln und jüdische Rituale nicht besonders hervor, spricht aber dennoch deutlicher davon als der MT. Haman wendet sich beim Ziehen der Lose an seine Götter (3,7), und seine Frau sagt ihm zuletzt, dass Gott gegen ihn sei (6,22). Mordechai sagt Ester, dass Gott ihrem Volk helfen wird (4,9), und sie bittet ihn, zu beten und zu einer Gebetsversammlung aufzurufen (4,11). Der Allmächtige lässt den König an Schlaflosigkeit leiden (6,1), Mordechai wendet sich dem Herrn zu (6,16–17), und Gott schenkt Ester Mut. Schließlich spielt in Proto-Ester die Chronologie kaum eine Rolle, aber das Datum des 13. Nisan, das für das Massaker an den Juden gewählt wurde (3,7), ist dennoch eine Anspielung auf Pessach.
2. Die griechischen Versionen: Aufbau und Themen
Wie oben erwähnt 229teilt die LXX in der „gemeinsamen Erzählung“ den Aufbau und die Themen des MT, von dem sie weitgehend abhängig ist. Das Vorhandensein der Zusätze A–F in der LXX verändert aber den Aufbau im Ganzen und wirkt sich darauf aus, wie die Erzählung interpretiert werden kann.
Die „theologische“ Dimension des Werks, die in der „gemeinsamen Erzählung“ mehr oder weniger am Rande stand, tritt durch die Zusätze A1, C, D und F entschieden hervor. Ester und Mordechai bekennen sich in ihren Gebeten zur göttlichen Souveränität über die Geschichte (C,1–4.23b) und bekräftigen, dass die Juden Gottes Erbbesitz sind (C,8a.9.16). Ester weist sogar darauf hin, dass die traurige Situation der Deportierten als Strafe Gottes verstanden werden kann (C,17–18). Das Gebet der beiden Helden (C,10.22–25.30b) drückt die Überzeugung aus, dass Gott am Werk ist, wenn die Juden gerettet werden. Mordechais ahnungsvoller Traum (A1) und seine Interpretation (F) setzen voraus, dass Gott Herr über die Ereignisse ist (F,6–9).
Die Ergänzungen machen auch die Motivationen der Protagonisten und den Sinn ihrer Taten deutlicher. In der „gemeinsamen Erzählung“ (3,2–4) wird nicht gesagt, warum Mordechai es ablehnt, sich niederzuwerfen, aber sein Gebet erklärt, dass man sich nur vor Gott niederwerfen dürfe (C,7). In der „gemeinsamen Erzählung“ ist die Vorstellung, dass eine jüdische Frau Königin von Persien wird, weder etwas Positives noch etwas Negatives, aber Esters Gebet (C,26–29) erwähnt, dass sie angewidert ist, die Frau eines ausländischen Königs zu sein, und dass sie nicht an den Mahlzeiten der Heiden teilnimmt. Schließlich beschreibt Zusatz D das erste Vorsprechen der Königin vor dem König auf eine viel theatralischere Weise als der MT. Hervorgehoben werden dabei die Unsicherheit ihrer Lage und ihre Angewiesenheit auf Gott – beides Elemente, die das Herz des Königs milde stimmen (D,8).
In den Zusätzen A1, C, D und F wird die nichtjüdische Welt sehr negativ gezeichnet in dem Sinne, dass jüdisches dort Leben fast unmöglich ist. Laut den Gebeten von Ester und Mordechai ist das Leben eines gläubigen Juden in der nichtjüdischen Welt kompliziert und mühsam.
In den Zusätzen A2, B und E werden die Nichtjuden weniger kritisch gesehen. Für die beiden königlichen Erlasse trägt Haman die Verantwortung (E,5–6.10–14). Der Großkönig hingegen wird als weiser und gütiger Herrscher dargestellt, der von einem schlechten Berater getäuscht wurde (E,5–9). Wie schon in der Episode von der Intrige der Eunuchen in A,12–17 erscheinen die jüdischen Protagonisten als treue Untertanen des Königs (E,13), und die jüdischen Gesetze werden positiv beurteilt (E,15.19). Schließlich bekräftigt der persische König in seinem Erlass die alles überragende Macht des Gottes der Juden (E,16.21).
Die griechischen Zusätze geben der Ester-Erzählung eine andere Tendenz, indem sie sie zu einer Geschichte machen, in der der allmächtige Gott die gläubigen Juden (A1, C, D und F) in einem Reich, das von einem weisen König regiert wird (A2, B, E), nachdrücklich beschützt.
Читать дальше