Und für wen?“
Er denkt an die Tochter des alten Brackmann, die ihr Letztes für den Vater hingibt.
Wer würde ein Gleiches für ihn tun?
Timm?
Er lebt nur seinem Sport und den Vergnügungen, die er mit sich bringt.
Ina?
Manchmal hat er das Empfinden, als hänge sie an ihm mit einer gewissen Liebe. Aber sie ist viel zu sehr in sich geschlossen und mit sich beschäftigt, um diese in irgendeiner Weise offenbaren zu können.
„Ja ... für wen lebe ich? Für wen placke ich mich vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht?
Und ... wer liebt mich?
Ein Einsamer bin ich ... ein Fremdling im eigenen Hause.“
Mit einer solchen Gewalt kommt dies Empfinden über ihn, dass ein Wunsch, der verborgen in ihm geruht, den er oft genug unterdrückt und der sich doch immer von neuem in ihm geregt, in dieser Stunde zur brennenden Sehnsucht wird: Einmal einem Menschen zu begegnen, der nicht nur von ihm fordert, sondern ihm auch etwas gibt, der ihn lieb hat ... nicht um seines Geldes und seines Verdienens, sondern um seiner selbst willen.
Aber der wird wohl nie kommen ... niemals.
So muss er sich mit dem abfinden, was ihm beschieden.
Und schliesslich gibt es ja auch in diesem Hause noch einen, der ihm zugetan ist. Und ist es auch nur eine alte verkümmerte Frau!
Er wird Frau Sabinchen einen Besuch machen. Er geht immer zu ihr, wenn ihm das Herz so recht voll ist. Ihr ist es eine grosse Freude und für ihn eine Befreiung von allerlei quälenden Gedanken.
Er schreitet einen langen schmalen Gang entlang, der auf einen vom Garten abgezäunten Hof führt, tritt in eine niedrige, aber von der Sonne freundlich durchspielte Stube.
Ein altertümliches Spind mit zwei Glastüren, durch deren eine ein Sprung geht, ein Biedermeiersofa mit hellgrünem, von der Sonne ausgezogenem Seidenüberzug und reichlicher Goldverzierung, zwei hochlehnige, geschnitzte Stühle, ein Prachtstück von antikem Schreibtisch aus hellem Mahagoni ... alles das steht geduckt und gedrückt, manchmal fast bis an die stuckverzierte Decke stossend, ein Zeichen verschwundener Herrlichkeit, die einmal weite, hohe Räume schmückte und sich jetzt ein bisschen missstimmig in diese für so anspruchsvolle und von sich eingenommene Möbel kaum ausersehene Stube einpferchen lässt.
Und wie das für diese Umrahmung geschaffene Bild sitzt in einem mit verschlissener mattrosa Seide bezogenen Sessel eine alte, aber in ihrer Haltung wie in ihren Bewegungen erstaunlich frische Dame: Frau Sabine Wallburg-Werra, Frau Dörthes zweiendachtzigjährige Mutter.
„Schön, dass du kommst!“
Eine Hand mit bläulich schwarzen Tupfen und prall gespannten Adern, aber immer noch die edlen Linien zeigend, streckt sich aus fadenscheinigem, an manchen Stellen geflicktem Ärmel entgegen.
„Ich bringe dir eine Karte für den Ufapalast, Sabinchen.“
Über das Gesicht mit der kreuz und quer durchfurchten Stirn und den grau hervortretenden Backenknochen geht ein Aufleuchten.
„Der Wagen steht um sechs Uhr hier an der Hinterpforte.“
„Damit Frau Vandekamp“ — sie nennt ihre Tochter nie anders — „nur nichts merkt!“
„Damit es sie in ihrer Nachmittagsruhe nicht stört.“
„Stören? So spät? Unsinn! Aber ärgern würde sie es. Sie gönnt mir nichts und ist erbost, dass ich in meinen Jahren noch an Kino und Theater denke. ‚Senile Vergnügungssucht‘ nennt sie es. Alles im Leben, das kannst du mir schon glauben, mein Junge, kommt aus dem Neid ... nur aus dem Neid. Er ist der Beelzebub unter den bösen Geistern.“
Eine energisch abweisende Bewegung antwortet ihr.
„Du weisst, Sabinchen“ — er hat diese für sie wirklich ein wenig komisch klingende Anrede, da sie die Bezeichnung ‚Mutter‘ nicht liebte, früher einmal im Scherz gebraucht und jetzt beibehalten, wie sie ihn nie anders als ‚mein Junge‘ nennt —, „dass ich Verständnis für deine Wünsche und Neigungen habe und gern bemüht bin, dir dein einsames Alter zu versüssen —“
„Ja, du bist der einzige —!“
„Nun gut — wenn du mich nicht auch verlieren willst —“
„Dann hätte ich keinen mehr —“
Wie hilfesuchend greift die gichtische Hand nach der seinen.
„So darfst du über meine Frau in dieser Weise nicht reden, darfst auf sie nicht schelten. Sie ist eine arme kranke Frau — und sie ist deine Tochter.“
„Meine Tochter war sie einmal. Ober handelt eine Tochter so an ihrer Mutter? Verbannt mich aus ihrem Gesichtskreise, steckt mich in dies Mauseloch, wo ihr die besten Zimmer zur Verfügung stehen, auf die ich einen Anspruch hätte wie sie. Hier soll ich glücklich und zufrieden sein und mich christlich auf mein Ende vorbereiten, wie es sich für eine alte Frau geziemt. Besucht mich nicht einmal —“
„Du weisst, dass sie seit Monaten ihr Bett nicht verlassen hat —“
„Aber lässt sie mich zu sich kommen? Hat sie mich ein einziges Mal um meinen Besuch gebeten? Und als ich ihn ihr ankündigte, weil mich die Sehnsucht trieb — jawohl, die Sehnsucht nach meinem Kinde! — was liess sie mir durch ihre Zofe antworten, diese unverschämte Person, die nichts anderes im Sinne hat, als uns völlig auseinanderzutreiben? Meine Gegenwart würde sie aufregen!“
„Hat sie damit unrecht? Du weisst, dass ausser mir und den Kindern niemand zu ihr darf.“
„Die Kinder sind wie die Mutter. Timm kümmert sich überhaupt nicht um mich. Und Ina macht mir alle acht Tage ihren kühl höflichen Besuch. Ich wundere mich nur, dass sie mir den Pastor noch lassen. Aber wer weiss, wie lange noch. Das letztemal war er schon so sonderbar.“
Er kennt den Wahn der alten Frau, die in allen Menschen ihre geschworenen Feinde sieht. Die traurige Lage, in die sie, die einmal in Glanz und Reichtum gelebt und alles zu ihren Füssen gesehen, durch ihre völlige Verarmung gekommen, die Erbstreitigkeiten mit der eigenen Tochter, der heiss erbitterte Kampf, den sie gegen sie zu führen hatte, die darauf folgende kühl gleichgültige Zurückziehung ihrer nächsten Angehörigen, an der sie wegen ihres verbitterten und herrschsüchtigen Wesens den grösseren Teil der Schuld trug, die Nichtachtung einer Dienerschaft, die einmal jeden Winkes ihrer Augen gewärtig war, alles das hat die hochmütige Frau gebrochen — er versteht es und hat Mitleid mit ihr.
„Du darfst mit Dörthe nicht so streng ins Gericht gehen. Es bringt ihr Leiden nun einmal mit sich.“
„Ihr Leiden!“ wiederholt sie geringschätzig. „Sie ist nicht so krank, wie sie und ihr immer tut. Vielleicht bist du kränker als sie.“
Er versteht nicht, was sie mit diesem Wort sagen will. Aber der blinzelnde Blick, der aus den trüben Schleiern ihrer Augen plötzlich mit seltsam zufassender Klarheit hervorbrechen kann, macht ihn stutzig.
„Ich bin gesund —“
„So seid ihr es beide. Und dazu jung. Ich aber bin alt.“
„Das glaubt dir nur, wer deinen Taufschein liest. In deinem Aussehen und Wesen bist du jung, Sabinchen!“
Jeden Tag muss er es ihr bestätigen, dass sie nicht alt ist. Tut er es einmal nicht, so weiss sie mit Sicherheit eine Gelegenheit herbeizuführen, die solch eine Erklärung herausfordert.
„Wenn es wahr ist“, erwidert sie beruhigt und geschmeichelt, „dass der Mensch so alt ist, wie er sich fühlt, kann ich zufrieden sein. Ich weiss, dass ich so bald nicht sterben werde ... nicht sterben will! Und nie ist etwas geschehen, was ich nicht wollte. Niemals! Schon, um Frau Vandekamp zu ärgern, möchte ich leben ... lange ... ewig, wenn es ginge. Zum mindesten so lange wie sie!“
Sie merkt, dass er eine Bewegung auf seinem Stuhl macht, als wolle er sich erheben. Das ist das einzige, was sie in Schach hält, den im geheimen glimmenden und immer wieder hervorbrechenden Groll jedesmal zügelt.
„Meine Mutter wurde neunzig, meine Grossmutter hundert Jahre.“
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