„Spielen Sie vielleicht eine Partie Schach?“
Hans hatte sich gerade in das grosse Gesellschaftszimmer zurückgezogen und, unschlüssig, wie er diesen trostlosen Vormittag totschlagen sollte, in einigen Zeitschriften zu blättern angefangen, als eine weiche, wohltuende Stimme an sein Ohr schlug. Vor ihm stand eine junge Dame, klein und zierlich gebaut, in einer grünlichgrauen, pelzverbrämten Jacke, die sich dicht und straff um den blühenden Körper schmiegte; auf dem Kopfe trug sie einen Filzhut von derselben Farbe, unter ihm wellte sich das dichte tiefschwarze Haar, in dem sich einige Regentropfen gefangen hatten, zu beiden Seiten über die bräunlich blasse, scharfgeschnittene Stirn.
„Ich wollte eben ein wenig hinaus,“ fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Aber es ist unmöglich. Und hier drinnen verkommt man vor Langerweile.“ Sie hatte die dunklen Haare von dem Filzhut, dessen einziger Schmuck eine kecke Feder war, befreit und sich zu ihm gesetzt. „Sie spielen Schach. Ich sah es Ihnen an, man sieht es allen Menschen an. Ebenso dass Sie Geistlicher sind.“
„Man hat mir sonst immer gesagt, dass man mir den Geistlichen gar nicht ansieht.“
„Doch, doch! Auf den ersten Blick. Gewiss, Sie tragen einen hellgrauen Anzug, auch Ihr Bart ist weltlich. Aber es ist etwas in Ihren Bewegungen, in Ihrer Haltung, das Ihren Beruf verrät. Ich sah es gestern abend gleich.“
„Gestern abend? Ich erinnere mich nicht. Sie da bemerkt zu haben.“
„Das glaube ich. Ich war hier im Gesellschaftszimmer und machte meine Studien durch die offene Tür. Man hat jetzt ja nichts andres zu tun. Sie sassen mir gerade gegenüber, und ich sagte mir: Offizier? Nein, dazu ist sein Gesicht zu bleich. Landmann? Derselbe Hinderungsgrund. Kaufmann oder Beamter? Zuviel Durchgeistigtes in seinen Zügen. Künstler oder Schriftsteller? Zu bürgerlich korrekt. Also Geistlicher.“
„Sie scheinen sich viel mit den Menschen zu beschäftigen.“
„Ich komme weit in der Welt herum, da beobachte ich manches; ich — Doch nicht wahr, Sie sind mit einer Partie einverstanden?“
Sie hatte das Spielbrett aus einem Wandschrank genommen, die Figuren verteilt, die ihren aufgebaut und den ersten Zug getan. Das alles ging so schnell, dass er, ohne es recht zu wissen, mit einem Male in der eifrigsten Partie war. Sie war eine Meisterin im Spiel. Er merkte es sofort; so sicher war sie in ihren Zügen, dass sie sie scheinbar mechanisch und mehr nebenbei tat, indes sie ungestört weiterplauderte. „Sie sind Geistlicher, ich bin Erzieherin, das ist eine Art von Verwandtschaft. Sonst wäre ich auch nicht so ohne weiteres zu Ihnen herangekommen. Sie sind aus Ostpreussen, dicht an der russischen Grenze. Nicht wahr? Ich las es im Fremdenbuch ... nein, ich darf nicht weitersprechen, Sie können dabei nicht aufpassen ... halt! Jetzt sind Sie verloren. Sie können ziehen, wie Sie wollen, es ist nichts mehr zu machen ... sehen Sie hier: matt! So hätten Sie ziehen müssen: die Königin, und dann hier ...“
Und mit der kleinen weissen Hand, in der alles lebte, und auf dessen Goldfinger ein grosser Rubin glühte, zeigte sie ihm die Züge, die ihn hätten retten können. Er war auch jetzt nicht bei der Sache, sie fühlte, dass er keine Neigung für eine zweite Partie hatte, auch ihr schien wenig daran gelegen, sie mochte bessere Spieler gewohnt sein. Mit einer leichten Bewegung schob sie das Brett von sich, lehnte sich in ihren Korbsessel zurück, nahm aus einem kleinen silbernen Behälter ein wenig Tabak in Seidenpapier, wickelte sich mit schnellem Geschick eine Zigarette und zündete sie an.
„Jetzt ist die Reihe an Ihnen. Erzählen Sie mir von Ihrem Leben, bitte!“
Er versuchte es. Aber die Worte kamen ihm nicht recht von den Lippen. Sie hörte auch nicht mit sehr grossem Eifer zu, die Beine mit lässiger Grazie übereinandergeschlagen, blinzelte sie auf ihre Füsse, deren zierlicher Bau auch die starken Schuhe, die sie für dies Wetter gewählt, nicht verbargen.
Er sprach von seiner Heimat, von Bärwalde erzählte er ihr, auch von Rodenburg. Nun wurde sie aufmerksamer; ab und zu unterbrach sie ihn mit einer Frage, die ihr Interesse für die Orte zeigte, die ihm lieb waren, über ihre Bodenbeschaffenheit, ihre Lage.
Aber mit einemmal hörte sie nicht mehr. „Die Sonne!“ rief sie. „Sehen Sie, die Sonne!“
Ein goldener, lange nicht geschauter Lichtstrom brach durch die Fenster da drüben und erfüllte das grosse Zimmer mit seinem warmen, weichen Glanze.
Sie waren ins Freie getreten.
Langsam begann sich die Küste zu enthüllen, in scharf umrissenen goldgeränderten Linien traten die Kuppen hervor, zuerst die Adlershorster, dann auch die fernere Oxhöfter. Bis das weite Meer dalag, von allen grauen Dünsten, allem lastenden Druck befreit, sonnenbeschienen, herrlich wie am ersten Tag.
„Wunderbar!“ sagte Hans, in Andacht versunken. Er hatte das Meer von jeher geliebt und alle diese regenschweren Tage hindurch eine unwiderstehliche Sehnsucht empfunden, es in seiner Farbenglut und dem leuchtenden Spiel seiner Lichter zu sehen, wie es sich jetzt zeigte von silberblitzendem Grau bis hinunter zum tiefsten Stahlblau, das dort drüben gegen den Horizont fast schwarz schimmerte.
„Sehr schön!“ gab das junge Mädchen an seiner Seite zurück. Aber die helle Begeisterung, die es beim ersten Durchbruch der Sonne erfasst hatte, schien bereits verloht. Hier im Freien, in dem unbestechlichen Licht des Tages sah er, dass sie doch nicht ganz so jung war, wie er sie beim ersten Anblick im Saal geschätzt hatte. Etwas Hartes lag in ihrem Profil, und um ihren Mund war ein eigentümlicher, beinah lauernder Zug, dessen Schärfe auch die blühenden, kirschroten Lippen nicht tilgen konnten. Aber das kecke Stumpfnäschen mit den Sommersprossen darauf gab ihr wieder etwas Jugendliches, beinah Kindliches. Es waren Widersprüche in diesem Gesicht und in dieser Erscheinung, die er nicht recht zusammenzureimen vermochte. Er hatte sich freilich auf die Frauennatur nie sonderlich verstanden.
„Nun wird endlich auch ein bisschen Leben in die Öde kommen,“ sagte sie, „es war ja auch gar nicht mehr auszuhalten. Im Kurhaus spielten sie wohl, aber wer hatte Lust, bei dem Wetter hinzugehen! Und auf den Promenaden und dem Stege nichts zu sehen als grau eingemummte Gestalten und unwirsche Gesichter!“
Er hörte sie kaum. Er war noch ganz in den Anblick dieser wunderbaren Natur versunken, die ebenso lieblich wie grossartig war. Sie focht das nicht an.
„Haben Sie schon die Kronprinzessin gesehen? Nein? Ich auch noch nicht. Aber sie ist hier, schon seit Wochen. Sie ist jetzt oft hier. Die Zoppoter haben ihr ein Häuschen geschenkt, ein Schloss kann man es kaum nennen. Dort auf dem Berge, oberhalb des äussersten Nordstrandes — nein, von hier aus können Sie es nicht sehen. Da wohnt sie und fährt jeden Tag aus ... im Auto oder mit ihrem Viergespann ... ich habe schon ein paarmal auf sie gewartet, trotz des Regens; aber sie kam nicht. Und ich möchte sie doch so gern einmal sehen, für mein Leben gern!“
Ihr Antlitz bekam einen erhöhten Glanz. „Hören Sie? Musik! Die Kurkapelle gibt ihr Vormittagskonzert. Da muss ich hin. Es sind noch zwei Stunden bis zum Essen. Ich werde mich umziehen. Auf Wiedersehen, Herr Pastor!“
Das schöne Wetter hatte seine Wirkung geübt. So lange hatte man ihm entgegengeharrt, nun war es in jenem plötzlichen Umschlag erschienen, den man so oft hier an der See beobachten konnte. Langsam und friedvoll kamen die Wogen gezogen, etwas Traumhaftes, Einschläferndes war in ihnen. Gegen das Weiss ihrer Kämme, das leuchtete, als wäre es aus lauter Schneeflocken zusammengesetzt, hob sich das der langgestreckten Dünen fast rötlich ab.
Die Promenaden und Wege, die tagelang vereinsamt dagelegen, füllten sich mit einem stetig wachsenden Strom von Menschen. So voll hatte man Zoppot an einem Alltag, noch dazu vor der eigentlichen Hauptzeit, nicht gesehen. Allerdings, man musste sich für lange Entbehrungen schadlos halten.
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