1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Insbesondere der Bereich der dissoziativen Störungen kann den Überblick und das Zurechtfinden sehr erschweren, da er beispielsweise das erste PTBS-Kriterium außer Kraft zu setzen vermag. Menschen mit dissoziativen Symptomen können teilweise gerade aufgrund ihrer Symptomatik keine traumatischen Ereignisse nennen. Das sogenannte »Typ-A-Kriterium« bleibt offen. Es wird separiert.
Dissoziation wird definiert als teilweiser oder völliger Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen (ICD-10) bzw. als Störung und/oder Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Gefühle, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation und des Verhaltens (DSM-5) (zit. n. Priebe, Stiglmayr u. Schmahl 2018, S. 488).
Priebe, Stiglmayr u. Schmahl (2018) geben eine Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen (ebd., S. 489), die in Tab. 2dargestellt wird.
Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen |
Störungsform |
Beschreibung |
Dissoziative Amnesie |
•teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an vergangene belastende oder traumatische Ereignisse zu erinnern •ausgeprägter und anhaltender als normale Vergesslichkeit |
Dissoziative Fugue |
•Amnesie •zusätzlich: Verlassen des Wohn- oder Arbeitsplatzes |
Dissoziativer Stupor |
•Verringerung oder Fehlen willkürlicher Bewegungen, von Sprache und Reaktionen auf Licht, Geräusche und Berührung •normaler Muskeltonus, aufrechte Haltung und Atmung sind erhalten |
Dissoziative Bewegungsstörung |
•entweder teilweiser oder vollständiger Verlust der Bewegungsfähigkeit oder Koordinationsstörungen |
Dissoziative Krampfanfälle |
•plötzliche krampfartige Bewegungen, die an einen epileptischen Anfall erinnern •selten Zungenbiss, schwere Verletzungen beim Sturz oder Urininkontinenz |
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen |
•entweder teilweiser oder vollständiger Verlust von Hautempfindungen bzw. Seh-, Hör- oder Riechverlust |
Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) |
•2 oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit eigenem Gedächtnis, Vorlieben, Verhaltensweisen, die zu bestimmten Zeiten Kontrolle über das Verhalten der Person haben •Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern |
Depersonalisations-/Derealisationssyndrom |
•entweder Depersonalisation (Entfremdung gegenüber der eigenen Person) oder Derealisation (Unwirklichkeitsgefühl gegenüber der Umgebung) |
Tab. 2: Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen (übernommen aus: Priebe, Stiglmayr u. Schmahl 2018, S. 489)
Zur Verdeutlichung werden im Folgenden eigene Praxisbeispiele angeführt:
Praxisbeispiele für dissoziativen Störungen |
Störungsform |
Beispiel |
Dissoziative Amnesie |
Die 50-jährige Patientin kann sich kaum an Ereignisse aus ihrer Kindheit und Jugend erinnern. Erinnerungen vor ihrem 16. Lebensjahr sind sehr lückenhaft bis nicht vorhanden. Im Verlauf der Behandlung treten einzelne Erinnerungen an traumatische Ereignisse aus dieser Zeit auf (Gewalt, sexueller Missbrauch). |
Dissoziative Fugue |
Die 45-jährige Patientin ruft mich von einem Ort der Stadt an, den sie nicht kenne, und sie wisse nicht, wie sie dorthin gelangt sei. Sie sei in ihrem Auto und kenne weder die Gegend noch den Anlass der Fahrt, noch habe sie eine Idee, wie sie nach Hause gelangen könnte. |
Dissoziativer Stupor |
Die 26-jährige Patientin verfällt mehrmals in Behandlungssitzungen in bewegungslose Zustände, in denen sie nicht mehr ansprechbar ist. Sie reagiert nicht auf meine Stimme, ebenfalls nicht auf meine Bewegungen. Die Zustände stehen in Zusammenhang mit der Nähe , die wir zu traumatischen Ereignissen ihrer Biografie herstellen. |
Dissoziative Bewegungsstörung |
Der 48-jährige Patient wurde aufgrund von Bewegungsstörungen (der unteren Extremitäten) in einer neurologischen Spezialklinik behandelt, ohne dass eine neurologische Verursachung gefunden werden konnte. Mehrere Monate verbrachte er im Rollstuhl, bis er das Gehen langsam wieder lernte. Sein Gangbild war in der Therapie überwiegend unauffällig, änderte sich jedoch deutlich in Sitzungen, in denen das Belastungsniveau anstieg. Solche Sitzungen verließ er humpelnd. |
Dissoziative Krampfanfälle |
Die 23-jährige Patientin berichtete von Krampfanfällen, die sie zu Hause erlebt hatte und die ihr große Angst machten. Im Behandlungsverlauf wird ein Zusammenhang mit traumatischem Stress deutlich. Während einer geplanten Konfrontation mit traumatischem Erinnerungsmaterial tritt ein solcher Krampfanfall in der Praxis auf. Die Anfälle gehen in dem Ausmaß zurück, in dem die Bearbeitung der Traumafolgestörung Fortschritte zeigt. |
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen |
Der 28-jährige Patient beschreibt, wie er im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Verlust, den er erlebte und weshalb er in Behandlung ist, wiederholt in Zustände gerate, in denen er mich nur noch wie aus weiter Ferne wahrnehmen würde, wie durch ein herumgedrehtes Fernrohr. Seine Wahrnehmung würde auf einen minimalen Punkt zusammenschmelzen (stecknadelgroß) und alles andere wäre wie eingefroren. |
Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) |
Der 47-jährige Patient beschwert sich über ein neues Tattoo, das sich plötzlich auf seiner Brust befindet. Er könne sich denken, wer dafür verantwortlich sei, und zeigt sich sehr verärgert, dass er keine Möglichkeit hatte, diesen Persönlichkeitsanteil daran zu hindern. Er schäme sich für dieses kindliche Motiv und würde sich so etwas niemals tätowieren lassen (da wüsste er ganz andere Motive, die er mir lieber nicht verraten möchte). |
Depersonalisations-/Derealisationssyndrom |
Die 25-jährige Patientin berichtet davon, wie sie eine stationäre traumatherapeutische Behandlung sozusagen ohne ihr Beisein absolvierte. Die meiste Zeit habe sie jeweils an der Zimmerdecke verbracht. Sie habe die Behandlungen von dort aus beobachtet und sich selbst als fremd erlebt. Die Szenerie sei ihr ebenfalls als fremd und unwirklich vorgekommen. Mit ihr habe das alles offensichtlich nichts zu tun gehabt. |
Tab. 3: Praxisbeispiele für dissoziative Störungen
2.2Orientierung mittels traumatischer Ereignisse
Die Definition traumatischer Ereignisse ist ein weites und viel diskutiertes Feld. Sie bewegt sich neben den durch das DSM-5 und die ICD-10 festgelegten Kriterien von der Mahnung vor der Inflation des Traumabegriffs (Quindeau 2019, S. 26) bis hin zum Aufzeigen von Grenzen der Traumadefinition und dem Vorschlag von Ergänzungen (Sack 2013). Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb bietet sich die Betrachtung der traumatischen Ereignisse ebenfalls als eine Orientierung in der Traumalandschaft, d. h. zur Behandlung von Traumafolgestörungen an.
Traumatische Ereignisse werden entsprechend der ICD-10 als kurz- oder langanhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß definiert, die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würden.
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