»Ich weiß wohl, daß ihr viel mehr gelernt habt als wir, die wir aus dem hintersten Winkel der Gemeinde kommen«, sagte er. »Ihr habt Naturlehre gehabt und alles mögliche andere. Jetzt möchte ich aber wissen, ob eines unter euch ist, das mir sagen kann, wie die Steine im Motalastrom sind?«
Nicht eines von den Küsterskindern hob die Hand in die Höhe; aber auf der andern Seite streckten sich alle Arme aus.
Da saßen sie auf der Küstersseite: Olof Olsson, der sich wohl bewußt war, den besten Lernkopf in der Gemeinde zu haben, und Hindrik Björnsson aus dem alten guten Bauerngeschlecht, und wußten kein Wort zu sagen; und da saß Karin Svens, das kluge Mädchen, das nicht einen einzigen Schultag versäumt hatte, und auch sie wunderte sich über die Maßen, wie alle die andern, und dachte, es sei doch sonderbar, daß ihnen der Küster nichts von der merkwürdigen Eigenschaft der Steine im Motalastrom gesagt hatte. Und da saß auch Klara Fina Gulleborg von Skrolycka, die ihren Namen von der Sonne erhalten hatte, und in ihrem Gehirn war es ebenso finster, wie in dem der andern Kinder.
»Dann bleibt nichts anderes übrig, als daß wir die andern fragen«, sagte der Schullehrer. »Aber es ist doch sonderbar, daß von so vielen pfiffigen Buben und Mädchen, wie hier sitzen, keines eine so leichte Frage beantworten kann.«
Gerade im letzten Augenblick drehte sich Klara von Skrolycka um und sah Jan an, wie sie zu tun pflegte, wenn sie sich nicht mehr zu raten und zu helfen wußte. Jan stand so weit weg von Klara Gulla, daß er ihr die Antwort nicht einflüstern konnte; aber als Klara Gulla in ihres Vaters Augen gesehen hatte, da wußte sie, was sie sagen mußte.
Schnell hob sie die Hand in die Höhe und stand sogar vor lauter Eifer auf.
Alle ihre Mitschüler und Mitschülerinnen drehten sich nach ihr um, und der Küster sah sehr vergnügt drein, weil er die Frage nun nicht an die andere Seite richten mußte.
»Sie sind naß!« schrie Klara Gulla, ohne zu warten, bis sie gefragt wurde, denn dazu war ja gar keine Zeit mehr.
Im nächsten Augenblick jedoch meinte sie, sie habe eine sehr dumme Antwort gegeben und die Sache für alle vollständig verdorben. Sie sank auf ihre Bank zurück und kroch beinahe unter den Tisch, damit ja niemand sie sehen könne.
»Ja, das war die richtige Antwort, Klara Gulla«, sagte der Schullehrer. »Es ist gut für euch Küsterschüler, daß wenigstens eines unter euch Antwort geben konnte, denn ihr seid nahe daran gewesen, geschlagen zu werden, so hochnasig ihr auch tut.«
Und nun erhob sich ein großes Gelächter unter den Kindern auf beiden Seiten und ebenso unter den Erwachsenen. Einige Kinder mußten aufstehen, um recht laut hinauslachen zu können, und andere legten sich mit dem Gesicht auf die Bank, und mit aller Ordnung war es aus und vorbei.
»Ich meine, wir schaffen jetzt die Bänke hinaus und tanzen um den Christbaum«, schlug der alte Tyberg vor.
Und so vergnügt waren die Kinder noch niemals in der Schule gewesen und auch später nie wieder.
Es war natürlich nicht möglich, daß irgendein Mensch das kleine Mädchen in Skrolycka ebenso liebhaben konnte wie sein eigener Vater. Aber soviel kann man doch behaupten: in dem alten Netzstricker Ola hatte die kleine Klara einen sehr guten Freund.
Die Freundschaft zwischen den beiden begann folgendermaßen: Klara Gulla war eines Tages auf den Gedanken gekommen, im Waschbach für die kleinen Forellen, die sich da im Wasser tummelten, sogenannte Fischstangen aufzupflanzen, das heißt, Stangen hineinzustecken, an denen die Leine mit der Angel hing. Dies gelang ihr besser, als man gedacht hätte. Schon am ersten Tage kam sie mit zwei Fischlein nach Hause.
Natürlich war sie sehr eifrig bei der Sache, und sie wurde gelobt und gepriesen von ihrem Vater und ihrer Mutter, weil sie schon jetzt, wo sie noch nicht älter als acht Jahre sei, Nahrung ins Haus schaffe. Und um sie noch mehr zu ermutigen, ließ Katrine sie selbst die Fische ausnehmen und braten, und Jan aß davon und sagte, einen solchen Fisch habe er in seinem ganzen Leben noch nicht gegessen. Und das war sicherlich die reine Wahrheit, denn der Fisch war so dürr und grätig, daß das kleine Mädchen selbst kaum einen Mund voll hinunterwürgen konnte. Trotzdem betrieb sie ihren Fischfang mit gleichem Eifer. Morgens stand sie schon ebenso früh auf wie ihr Vater. Sie nahm einen Korb an den Arm, um darin die Fische besser nach Hause tragen zu können, und für die abgenagten Angelhaken trug sie in einer kleinen Blechbüchse auch Würmer bei sich. Auf diese Weise ausgerüstet, schritt sie am Waschbach hinauf, der oft mit steilem Gefälle und langen Strecken von Stromschnellen von der Höhe herabgetanzt kam; dazwischen hatte er aber auch dunkle stille Hinterwasser und klare Stellen, wo das Wasser langsam und durchsichtig über Sand und flache Steine floß. Aber wer hätte gedacht, daß nach der ersten Woche Klara Gullas Glück beim Fischen mit einemmal ein Ende hätte! Zwar war der Köder beinahe von allen Angeln verschwunden, aber statt seiner hing kein Fisch daran. Sie versetzte ihre Fischgeräte aus den Stromschnellen ins Hinterwasser und aus dem Hinterwasser in die Wasserfälle und nahm andere Haken, allein es wurde nicht besser.
Klara Gulla fragte die Jungen von Börjes und die von Erik in Falla, ob sie in aller Herrgottsfrühe aufstünden und ihr die Fische von den Angeln nähmen. Aber die Jungen gaben ihr kaum Antwort auf eine solche Frage, denn keiner von ihnen hätte sich so erniedrigt, im Waschbach Fische fangen zu wollen. Dazu hatten sie doch den ganzen großen Duvsee. Für kleine Mädchen dagegen, die nicht ans Seeufer hinuntergehen durften, war es ja ganz nett, in den Waldbächen zu fischen.
Aber wie patzig auch die Jungen antworteten, Klara Gulla traute ihnen doch nur halb. Irgend jemand mußte doch die Fische von den Angeln nehmen; denn sie hatte richtige Angelhaken im Waschbach ausgelegt, nicht nur krummgebogene Stecknadeln.
Um endlich Klarheit in die Sache zu bringen, stand sie eines Morgens noch früher auf als Jan und Katrine und lief eiligst an den Bach. Als sie in dessen Nähe kam, verlangsamte sie erst ihren Gang, schlich sich dann mit winzigen Schrittchen immer näher und nahm sich dabei sehr in acht, daß sie nicht auf lose Steine trat oder in den Büschen raschelte.
Und denkt einmal! Ihr ganzer Körper erstarrte, als sie an den Rand des Baches kam und sah, daß sie recht gehabt hatte. Da stand ein Fischdieb genau an der Stelle, wo sie am vorhergehenden Morgen ihre Angelhaken ausgelegt hatte, und leerte diese ab.
Aber der Dieb war nicht, wie sie erwartet hatte, einer von den Jungen, sondern ein erwachsener Mann. Er stand tief übers Wasser gebeugt und zog eben einen Fisch herauf. Klara Gulla sah den Fisch aufblitzen, als der Dieb ihn von der Angel nahm.
Das kleine Mädchen war erst acht Jahre alt, aber es fürchtete sich niemals, und so lief es jetzt herbei und ergriff den Dieb auf frischer Tat.
»Ach so, Ihr seid es also, der mir meine Fische nimmt!« sagte sie. »Es ist nur gut, daß ich dazugekommen bin, damit die Dieberei ein Ende hat.«
Nun hob der Mann den Kopf, und Klara Gulla konnte sein Gesicht sehen. Und da war es der alte Netzstricker, der in einer der Waldhütten wohnte.
»Ja, die Fischgerätschaften gehören dir, das weiß ich wohl«, sagte er ganz ruhig, ohne ärgerlich und heftig zu werden, wie sich die Leute meistens geben, wenn man sie auf einem Unrecht ertappt.
»Aber wie könnt Ihr Euch unterstehen, etwas zu nehmen, was nicht Euch gehört?« rief das arme kleine Mädchen.
Da sah der Mann sie an, und diesen Blick konnte sie ihr Leben lang nicht vergessen. Es war ihr, als sähe sie in zwei offene, leere Abgründe, in deren Tiefe zwei halberloschene Augen lagen, in denen sich weder Leid noch Freude mehr widerspiegeln konnten.
Читать дальше