Aber kaum war dies geschehen, so pochte der alte Jakob an das Haus seines Brotherrn und bat, den Namen seines Sohnes von dem Kreuz zu entfernen. »Die wüste Leiche war unser Wilhelm nicht«, sagte er. »Unser Wilhelm war unschuldig, was hätte er sich erhenken sollen? Gott bewahre, er war ein frommer Junge, der hat seine Seele nicht dem Teufel verschrieben.« So wurde der Name wieder entfernt, und das Grab blieb unbestellt, weil sich keiner darum kümmern wollte. Niemals sah man Jakob oder Anna bei dem eingesunkenen Hügel stehen; wenn sie auf den Friedhof kamen, schlichen sie scheu daran vorbei und gönnten ihm keinen Blick.
Die Jahre vergingen, grau waren die beiden Alten geworden, verrunzelt und gebrechlich. Noch immer hausten sie auf dem Sommersitz des Kaufherrn, und noch immer blitzten die Fensterscheiben spiegelklar zwischen Wein und Klematis hervor. Mit Besen und Tuch wanderte Anna durch die hellen Räume, die gewohnte Pflicht erfüllend; doch ihr Augenlicht begann nachzulassen, sie trug eine grüne Brille, und wenn sie auf den Dielen einen feuchten Tritt oder eine Staubflocke vermutete, mußte sie auf allen vieren suchend umherkriechen – »wie ein Hund«, meinte sie dann selbst, »der seines Herrn Spur erschnüffelt …«
Auch den Mann schien das alte Gärtnerglück zu verlassen. Das pflanzliche Leben wollte sich seinen Händen nicht mehr fügen, es welkte und starb dahin, als wäre Jakobs Pflege von einem heimlichen Unsegen begleitet. Mit jedem Male wurde die Ernte karger, die er in die Stadtwohnung seines Dienstherrn brachte. »Hier ist es – und es ist alles«, sagte er, sein zahnloser Mund lächelte bitter. »Ich habe kein Äpfelchen für mich behalten, gnädiger Herr. Ich bin kein Dieb, auch ich nicht.«
Geh nur, Jakob! Dir fährt das Alter in den Kopf. Du wirst sonderbar.«
Von ihrem Sohn sprachen die Eltern selten und seltener. Aber eines wußte vom andern, daß es nicht aufgehört hatte zu hoffen und zu harren. Wilhelms Wiederkehr war etwas, das sie gleichsam am Rande ihres Lebens zu sehen erwarteten, das in irgendeiner Weise bereits zu den letzten geheimnisvollen Dingen gehörte, die Gott an der menschlichen Seele im Augenblick ihres Abscheidens vollzieht. »Wir werden nicht mehr Zeit haben, alles gutzumachen«, meinte Jakob einmal. »Ach, wie könnten wir, wie könnten wir!« antwortete die Mutter. »Selbst wenn wir ihm die ganze Welt zu Füßen legten, was wäre sie gegen unsre Reue!«
Vor Weihnacht, wenn sich der Tag jährte, an dem Wilhelm verschwunden war, wurden beide stets von einer tiefen Unruhe ergriffen. Heimlich buk die Mutter Lebkuchen und brachte wie einst eine kleine Tanne vom Markt, Wachslichter und Flitterwerk. In den langen Mittwinternächten dünkte sie der Sohn näher als sonst zu sein, sein Bild erfüllte ihre Sinne wie eine leibhaftige Gestalt, und seine Stimme schien als ein leiser Nachhall in den verlassenen Gemächern zu schweben. Qualvoll beglückt durchstreiften sie Haus und Garten, sahen die bereiften Bäume zauberisch im Dunkeln stehen. Eine fremde Spur im Schnee ließ sie plötzlich verstummen, den zwei alten Menschen war, als hielten Himmel und Erde rings um sie den Atem an vor dem, was geschehen sollte.
In einer solchen Nacht war es, als Anna plötzlich von einem Geräusch erwachte, es war ein leises Scharren, das für Sekunden aussetzte, doch immer wieder begann. Sie weckte Jakob, nun lauschten beide atemlos. »Es ist jemand draußen«, flüsterte er.
»Mach Licht, mach Licht! O Jesus Christus!« schrie sie leise, als die Schwefelhölzer zwischen seinen bebenden Fingern nicht sogleich aufflammen wollten. »Der Wilhelm!« Ihre Stimme zerbrach in Entzücken und Grauen, zitternd sprang sie auf die Beine und versuchte in ihre Kleider zu fahren. Aber die Augen versagten ihr den Dienst, sie tappte hilflos umher.
Unterdessen hatte der Mann eine Kerze zum Brennen gebracht und war auf den Flur getreten: nun war das Scharren ganz deutlich zu vernehmen, es drang aus dem Dachraum, zu dem sich eine schmale Stiege durch eine Falltür emporwand. Barfuß, vor Kälte und Erregung schlotternd, stieg der Greis die Stufen hinan. »Wilhelm!« rief er. »Wilhelm, bist du es?«
Mit dem Kopf im Dachraum auftauchend, sah er einen Mann vor einer Truhe knien und im Licht einer winzigen Laterne mit Dietrich und Feilen hantieren. Es war die Truhe, in der sie des Sohnes Kleider und Wäsche aufbewahrten. Der Fremde kehrte Jakob den Rücken zu, doch jetzt, durch den Ruf oder den Schein der Kerze gewarnt, erhob er sich, blickte zurück. Es entfuhr ihm ein gurgelnder Laut des Entsetzens, einer sinnlosen Bewegung zur Flucht folgte sekundenlang schwankendes Stillestehen, endlich sprang er hin und schmetterte die Falltür über dem Alten zu.
Die Mutter hatte den Schlag und das polternde Kollern eines Körpers vernommen. Sie stürzte in die Finsternis hinaus, stolperte und fand ihren Mann am Boden liegend, seine Hand hielt noch die erloschene Kerze krampfhaft umschlossen. Sie tastete über ihn hin, ließ ihn liegen, klomm die Stufen hinan und stemmte stöhnend die schwere blechbeschlagene Platte auf. »Wilhelm, Wilhelm …«
Im Dachraum brannte das kleine Diebeslicht, und in seinem ungewissen Schein stand ein Mensch; er war groß und breit und hatte ein wollenes Tuch um den Hals gebunden. Die alte Frau ging auf ihn zu, furchtlos, sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und brachte ihre halbblinden Augen nahe an sein Gesicht. »Du bist es, Kind!« flüsterte sie unter Tränen.
»Gott sei gelobt!«
»Kind …?« fragte der Mann.
»Mein Wilhelm …«
»Ich heiße nicht Wilhelm«, erwiderte der Fremde. »Ich weiß nicht, was Ihr wollt!«
»Verberge dich doch nicht vor mir!« rief die Mutter ausbrechend. »Ach, du bist lange fort gewesen. Aber wir wußten, daß du wiederkommen würdest, der Vater und ich. Wir haben immer daran geglaubt, daß du uns schließlich verzeihen würdest.«
Der Mann schüttelte den Kopf, wollte reden, vermochte es jedoch nicht. »Ich verstehe Euch nicht«, murmelte er endlich verwirrt. »Ich bin ein Dieb, ein Einbrecher. Einer, der nachts in fremde Häuser schleicht … Ich wollte Kleider holen, mich fror – es ist so kalt. Da kam der Alte …« Er stand eine Weile da, seine Augen suchten die Falltür, jetzt schauderte er heftig zusammen. »Der alte Mann … er fiel doch die Treppe hinab, und ich … ich bin noch hier!«
Er riß sich von Anna los, öffnete eine Luke und zwängte sich hindurch. Die Frau hörte den dumpfen Fall seines Körpers, doch kurz darauf sah sie einen hastenden Schatten zwischen den verschneiten Büschen verschwinden. Da warf sie die Arme empor und schrie …
Wenige Stunden später war das stille Haus voll fremder Menschen. Polizisten standen umher, während ernst blickende, schwarzgekleidete Männer jeden Raum Zoll für Zoll durchmaßen. Die Leiche des alten Jakob hatten sie in seiner Kammer auf das Bett gelegt, sie war nicht entstellt, nur aus Mund und Nase waren zwei feine Blutfäden hervorgesickert, die dem hohlwangigen, verrunzelten Gesicht den Ausdruck stiller Vergnügtheit gaben.
Im gelben Saal liefen Schritte hin und her, rastlos, ohne Ende. Von Zeit zu Zeit versuchte eine Hand an der Türklinke zu rütteln, dann erhob sich eine dunkle Stimme, die voll Geduld, aber auch voll Festigkeit war: »Setzen Sie sich nieder, liebe Frau. Sie dürfen jetzt nicht hinausgehen. Sie werden Ihren Sohn bald wiedersehen …«
Man fand den Mörder in einem nahen Schuppen, wo er sich im Heu vergraben hatte. Als er hörte, daß der alte Mann tot sei, beteuerte er jammernd, das habe er nicht gewollt.
Kurz vor Fastnacht trat das Schwurgericht zusammen, um über den Mann, der in einem Sommersitz eingebrochen und dabei den Hausbesorger erschlagen hatte, zu richten. Er nannte sich Albrecht Hegner, aus einem fernen Teil des Landes gebürtig, und erzählte sein Leben, wie es bisher verlaufen war, das Leben eines eltern- und heimatlosen Menschen, der es zuerst versucht hatte, redlich durchzukommen, und schließlich Hehler und Dieb geworden war. Jetzt hatte er getötet.
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