Verzagten Herzens wanderten Jakob und seine Frau in das Haus des reichen Kaufherrn, Abbitte zu leisten. Doch die erwartete Scheltrede blieb aus. Mit trauriger Miene reichte jener ihnen die Hand. »Arme Leute«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, »ihr werdet an eurem Kinde noch viel Kummer erleben müssen.«
Am Abend, als Wilhelm schon schlief, saßen die verstörten Eltern noch bei ihrer Ölfunzel wach. Endlich hob die Mutter das verweinte Gesicht von den Händen. »Wir haben unsern Wilhelm zu lieb gehabt, Vater«, sagte sie. »Ich sehe es nun, wir haben ihn zu lieb gehabt.«
»Meinst du das wirklich?« fragte der Mann. Er trat zum Herd, da gloste noch ein wenig Glut, er starrte in ihr düster-rotes Licht und konnte seine Augen nicht mehr wegwenden. »Dann haben wir eine schwere Sünde gegen ihn begangen.«
»Ja«, sagte die Mutter, »das haben wir wohl. Und wir müssen nun streng sein gegen ihn.«
Der Mann nickte, und nach einer Weile nickte er wieder, als fiele es ihm schwer, diesen Gedanken in sich zu fassen, obwohl er ihm willig sein wollte. »Streng sein …«, sagten die Eltern vor sich hin. »Ja, das müssen wir nun.« Und dann weinten sie wieder.
Von diesem Tag an begegneten sie ihrem Sohn anders als vorher. Sie zwangen ihn, seine kindlichen Spiele aufzugeben und an ihrer Arbeit teilzunehmen. Sie schlossen die buntbebilderten Bücher fort, in denen er so gern gelesen hatte, wachten darüber, daß er nicht mehr mit den Gefährten zusammentraf, von denen, wie sie meinten, der Trotz des Knaben aufgewiegelt würde. Sie suchten seine Lehrer auf und baten sie, ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Sie weihten ihn nicht mehr in die kleinen Geheimnisse ihres Lebens ein, sondern hielten ihn fern von sich, in der Meinung, so seine Ehrfurcht zu erwecken.
Wohl sahen sie, daß Wilhelm diesen Wandel nicht begriff. Er war, wie alle Kinder, stets bereit gewesen, seine kleinen oder größeren Übeltaten zu vergessen, und vergaß sie, sobald er glauben konnte, daß auch die Eltern sie vergessen hätten. Allein diesmal wartete Wilhelm vergeblich. Ein Tag nach dem andern verging, und was ein kurzes Ungewitter geschienen, breitete sich zu einem Landregen aus, einer nicht enden wollenden Trübe. Dem Knaben war, als hätte er sich unversehens in ein fremdes kälteres Land verirrt, aus dem es keinen Ausweg gab. Voll Schmerz und Trotz versuchte er sich die Rückkehr in das verlorene Paradies zu erzwingen, doch sein wildes Aufbegehren erschreckte die Eltern noch mehr. Sie machten ihr Herz hart gegen ihn und verbargen ihre Liebe.
Als Wilhelm vierzehn Jahre alt war, erbot sich der reiche Kaufherr, ihn zu sich in die Lehre zu nehmen. »Vielleicht mache ich noch was Ordentliches aus ihm«, sagte er. »Ich will nichts unversucht lassen, euch zuliebe, denn ihr seid gute Leute und habt das Böse nicht verdient.« So trat Wilhelm in das Geschäft seines Herrn ein, zuerst als Tütendreher und Laufbursche, später als Verkäufer. Er war jetzt ein langer und hagerer junger Mensch geworden, die dumpfe Luft in den Warenhäusern bleichte seine Haut, und seine Augen trübten sich ein wenig. Die Leute, die ihn früher gekannt hatten, stießen einander an. »Seht, das war das schöne Kind von Jakob und Anna, jetzt ist er häßlich; aber er verdient sein Brot.«
Eines Tages – es war kurz vor der Weihnachtszeit und das Wetter bitter kalt – kam der Kaufherr in sein Gartenhaus. Anna lief, als sie das Gefährt vor dem Gartentor erblickte, geschäftig hinab in den Saal, um ein Feuer anzumachen. Da blinkte und blitzte der Boden, obwohl niemand von der Herrschaft zu erwarten gewesen war, und es lag kein Stäubchen auf den Möbeln und kein dürres Blättchen unter der Zimmerlinde. Die Frau rückte den Polsterstuhl an den Ofen, eilend, dem frierenden Herrn einen Kaffee zu kochen. Aber er lehnte mit finsterer Miene ab, verlangte nach Jakob und ließ sie beide lange wartend an der Türe stehen, ehe er das grämliche Gesicht nach ihnen wandte. »Euer Sohn«, begann er, »hat mir meine Güte schlecht belohnt. Doch ich habe nie etwas von ihm gehalten, mich trügen meine Augen nicht.«
Die Eltern fingen an zu zittern. »Gnädiger Herr«, stammelte die Frau, sie faltete ihre alten, von der Arbeit gekrümmten Hände. »Gnädiger Herr, seien Sie nicht zu hart. Ich bitte Sie! Aber wenn unser Wilhelm wirklich etwas verfehlt haben sollte, wollen wir alles gutmachen, ich und mein Mann …«
»Was wollt ihr gutmachen? fragte der Kaufherr. »Er ist ein Dieb geworden, es liegt an seiner Ehre.«
Die Mutter schrie auf, und Jakob mußte sie am Arm fassen und hinausführen. Dann kehrte er in den gelben Saal zurück; alle die alten und wohlbekannten anvertrauten Dinge standen da, blank und glänzend, und grinsten ihn höhnisch an. Der Kaufmann saß am Ofen und stemmte die Füße gegen die Kacheln, er hatte seine blaugefrorene Nase im Pelz vergraben. Aber das Feuer knatterte munter, und seine Wärme weckte einen leisen Duft wie nach gebratenen Äpfeln und Behaglichkeit. Da schaute der Kaufherr auf und sagte: »Laß mir einen Glühwein bringen, Jakob! – Du willst wohl wissen, was er gestohlen hat, der Wilhelm. Hundert Kronen sind es – jawohl, sie waren in meinem Schrank versperrt.«
Es war schon spät, und der Mond zeigte sein weißes Gesicht zwischen den kahlen Ästen der Bäume und dem bewegten Gewölk, das an ihm vorbeitrieb, als die Tür ging und Wilhelm nach Hause kam.
Er trat in die Kammer, da lief die Mutter auf ihn zu und schrie: »Was hast du getan, Wilhelm, was hast du getan? Haben wir dich gelehrt, ein Dieb zu werden?«
Der Sohn knickte zusammen; sein Mund zitterte, da er ihn endlich auftat; er fragte so verwundert, daß die Eltern vor Schmerz winselten: »Glaubt ihr es denn, ihr auch?«
Doch als keine Antwort kam, lief seine Stirn dunkelrot an, sein Blick wurde glühend starr, er schrie: »Ihr seht mich nie mehr wieder …« Damit sprang er die Treppen hinab und in die Nacht hinaus.
Von dieser Stunde an blieb Wilhelm verschwunden. Ein langer, grimmiger Winter verging, und als endlich der Frühling schüchtern seinen Einzug in den verödeten Fluren und Gärten der Vorstadt hielt, saßen die beiden Alten immer noch allein in ihrem Sommerhaus und warteten. Sie warteten Tag und Nacht, ihr Schweigen war ein Hinauslauschen geworden und ihr Schlaf nur wie ein dünner Schleier, der sich für kurze Stunden auf ihre Bangnis senkte. Manchmal verließen sie ihr Heim und wanderten ein Stück ins offene Land hinaus und suchten mit ihren Augen alle Wege ab.
Die Spalierbäume begannen zu blühen, der Rasenplatz stand von weißen Narzissen voll, da kam der Wagen des reichen Kaufherrn wieder vorgefahren. Doch nicht er entstieg dem Gefährt, sondern seine Frau, eine dicke, muntere Dame mit vollen Wangenrosen. Sie stieß das Tor hastig auf und segelte auf Jakob zu, daß ihr Busen wogte. »Freuen Sie sich, lieber Mann«, rief sie und ergriff seine Hände. »Ihr Sohn ist unschuldig, die hundert Kronen haben sich gefunden: die Geldrolle ist in dem alten Schrank hinten in ein Geheimfach gekollert.«
Dem alten Jakob entfiel das Setzholz, er sagte: »Gott sei Dank …« und ließ die gnädige Frau stehen, er lief zu Anna in den gelben Saal, die dort kniete und den Boden scheuerte. Nach einer Weile erschien auch die gnädige Frau; nachdem sie Annas Hand gedrückt hatte, bat sie um Kaffee. »Eine Flasche Wein habe ich mitgebracht«, jubelte sie. »Und einen Kuchen; wir wollen dieses Fest doch feiern, zu dritt!«
Aber die Mutter wollte das Glas nicht auf die glückliche Entdeckung leeren. Die Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie kam nicht nach, sie mit der Schürze abzutrocknen. »Jetzt muß er wiederkommen«, stammelte sie ein um das andere Mal. »Im Tagblatt soll es stehen, daß der Wilhelm unschuldig ist. Dann muß er wiederkommen.«
Im Tagblatt erschien denn auch eine Nachricht, allein sie hatte von anderem zu berichten als von der wiederhergestellten Ehre des Gärtnersohnes: Ein Förster gelangte auf einer Streife in einen sehr abgelegenen Teil seines Reviers und fand dort unter den tiefhängenden Ästen einer Schirmtanne eine menschliche Leiche in einer Drahtschlinge hängend. Die Leiche war von Füchsen und anderem Raubzeug übel zugerichtet, fast bis zur Unkenntlichkeit verwest, aber der eine oder der andre meinte, in ihr den verschollenen Kaufmannslehrling erkennen zu dürfen. So begrub man die armen Reste an der Friedhofsmauer, wo Selbstmörder und Andersgläubige in ungeweihter Erde liegen. Der reiche Mann, in dessen Diensten Wilhelm gestanden, stiftete ein steinernes Kreuz, dem er Wilhelms Namen und ein von Rosen umranktes »Ruhe in Frieden!« einmeißeln ließ.
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