Viveca Lärn
Datteln und Dromedare
Deutsch von Mariane Vittinghoff
Saga
Als ich aus der Schule kam, saß mein Vater immer noch am Frühstückstisch und starrte die Müslipackung an. Er hätte heute eine Menge über Proteine und Vitamine gelernt haben müssen.
„Jetzt reicht’s aber wirklich“, sagte ich. „Es war doch bloß ein altes verfaultes Krokodil.“
Er schaute mich verletzt an.
„Ein Alligator, wenn ich bitten darf, kein Krokodil“, sagte er. „Und nicht irgendein Alligator. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Und neulich, nach dreißig Jahren hatten wir beinahe Augenkontakt ...“
„Augenkontakt!“
Ich stöhnte so laut, daß die Müslipackung umfiel. Auch egal. Nun hatte mein Vater wenigstens etwas anderes zum Anstarren, und zwar mich.
Es ist nämlich so, daß mein Vater jeweils eine Woche Künstler ist und jede zweite Woche Pförtner bei einer Zeitung. Wenn er Pförtner ist, macht er ganz bestimmte Dinge: er holt die Post, verteilt Kalender, sucht nach Photos, wirft Betrunkene hinaus und spielt Schach. Wenn er Künstler ist, treibt er, was er will. Zum Beispiel alte halbverfaulte Krokodile zeichnen.
Im Aquarium des Seefahrtsmuseums von Göteborg hat es seit langem ein altes faules Krokodil gegeben, ja, meinetwegen war es auch ein Alligator, der jahrein, jahraus dort herumgelegen hat. Die heftigste Bewegung, die ich jemals bei ihm beobachten konnte, war an einem Dienstag, als ich sieben war. Da blinzelte er zweimal. Mein Vater hat immer davon geträumt, Smily — so hieß der Alligator — zu malen, und im Januar fing er damit an. Jetzt haben wir Februar, Smily ist gestorben und mein Vater untröstlich. Er trauert um einen Alligator. Die ganze Wohnung ist voll von Skizzen, nur zu einem fertigen Bild hat er es noch nicht gebracht.
Smily erfror im Alter von Sechsundsechzig Jahren, weil ein paar geizige Beamten die Heizung im Aquarium runtergedreht hatten, um Staatsgelder zu sparen. Mein Vater wird sie anzeigen, sagt er. Er redet gern, aber tut er jemals etwas Gescheites? Holt er vielleicht eine Pizza oder einen Milchshake für eine ausgehungerte Seele, die den ganzen Tag in der Schule geschuftet hat? Nein, tut er nicht. Hat er schon einmal mein Zimmer aufgeräumt, Tulpen gekauft oder ein Päckchen Gummibärchen auf mein Bett gelegt? Nein, hat er nicht. Nimmt er vielleicht meine Freundin Ulli und mich in heiße Filme mit, die nicht jugendfrei sind? Mit den Taschen voll Popcorn, zum Beispiel? Nein, tut er auch nicht. Er denkt nur an sich.
Ich ging in mein Zimmer, warf meine Schultasche in die Ecke und schlug die Türe zu. Sofort kam Vaters Stimme, total überrascht:
„Was hast du denn, Tekla? Macht dir die Schule keinen Spaß mehr?“
Ich betrachtete mich in meinem Taschenspiegel. Es war der erste Tag nach den Winterferien, und ich war total weiß im Gesicht. Mindestens sechs Leute aus meiner Klasse waren Skifahren gewesen und fast schwarz. Konrad ist natürlich auch braun, aber das liegt daran, daß er aus Indien kommt.
Jasmine Svensson ist immer braun, denn ihre Mutter kriegt Prozente in einem Solarium.
Ulli und ich würden da nie hingehen. Wir finden so etwas schwachsinnig. Wir denken! Wir haben einen Denkerclub und Notizbücher in weißgold. Wenn wir einmal zu Ende gedacht haben, würden wir uns vielleicht kurz in die Sonne legen oder Peter aus der Klasse nachlaufen, wie es Jasmine immer tut, aber sicherlich erst danach.
Vater öffnete vorsichtig die Tür.
„Was willst du essen?“
„Was? Essen? Das ist ja etwas ganz Neues.“ Seitdem Smily tot ist, haben wir uns doch nur von kalten Wienern, Chips und Essiggurken ernährt.
Vater seufzte.
„Ich weiß“, sagte er. „Ich habe wieder einmal nur an mich gedacht. Es ist mir nur so verdammt nahegegangen. Ich meine das mit Smily. Sie hatte etwas Unergründliches im Blick, und ich war gerade dabei, ihr ein bißchen näherzukommen.“
„Gibt es denn keine anderen Tiere mit unergründlichem Blick?“ fragte ich. Ich war nicht mehr ganz so sauer.
„Doch, schon“, sagte Vater und sah direkt glücklich aus. „Deswegen kam ich ja darauf, daß wir wieder essen könnten und so. Es gibt noch ein anderes Tier, das ich immer malen wollte. Ein Tier mit einem noch ausdrucksvolleren Blick. Ich dachte, daß wir im Juni losziehen könnten ...“
Ich schüttelte ihn am Arm.
„Und was ist es diesmal? Hummel, Reh, Eisbär, Fliege? Bestimmt eine Fliege. Da müssen wir wenigstens nicht so weit fahren.“
„Ein Kamel!“ verkündete Vater.
„Kamel? Kamel?“
Ferien unter Kamelen klang ja nicht schlecht.
„Und wo gibt es Kamele?“ fragte ich. „Bestimmt nicht hier in der Gegend?“
„Nein, nein“, lachte Vater. „In Tunesien, und dort spricht man außerdem Französisch und ich auch. Das wird eine unvergeßliche Woche werden.“
„Ulli wird sich freuen. Sie ist noch nie geflogen.“
Vater schwieg.
„Ulli“, sagte er schließlich, „ist ein unglaublich nettes Mädchen. Aber können wir nicht ein Mal alleine fahren? Nur du und ich?“
„Geht nicht, Vater. Unsere Familie wirkt so mickrig.“
Er streichelte zärtlich mein strubbeliges Haar.
„Du hast ja recht, Tekla“, sagte er. „Wir sind zu wenige. Sie kann schon mit.“
Der letzte Schultag in der Sechsten war ein ganz besonderer Tag. Außerdem hatte der Tennisstar Björn Borg Geburtstag, und es war der schwedische Nationalfeiertag.
Ulli und ich wollen auch Tennisprofis werden, bevor wir in Kunstgeschichte promovieren und Schauspieler werden. Björn Borg und die anderen alten Herren, die etwas von Aufschlag und Rückhand verstehen, finden wir ganz in Ordnung.
Am letzten Schultag allerdings, im Pausenhof, dachten wir mehr an uns selbst. Es war eine tolle Stimmung. Alle Mädchen aus der Sechsten hatten Blumenkränze im Haar, weil sie mit dieser Schule fertig waren und nie mehr einen Fuß in dieses rote Ziegelgebäude setzen würden. Nicht einmal für fünfzig Kronen. Im Herbst kommen wir nämlich auf die Realschule, und dort geht es viel härter zu. Da hat jeder seinen eigenen Schrank, zum Beispiel, für seine Klamotten und sein Zeug, und nicht mehr nur die lächerliche Bank. Außerdem hat man für jedes Fach einen anderen Lehrer, und einige davon tragen Krawatten. Die Jungs haben einen männlichen Turnlehrer und wir eine Frau, damit alles klar ist. In der Realschule dürfen die Mädchen auch keine Shorts tragen, weil sie jetzt so lange Beine haben. Und natürlich gibt es keinen Pausenhof mehr, denn mit dreizehn wird man ja kaum mehr Seil hüpfen wollen, oder?
Am letzten Schultag sang Jasmine Svensson Solo.
Sie hat wirklich eine gute Stimme, um die sie alle beneiden, sogar ich, obwohl ich mich im Chor ganz gut mache. Jasmine trug ein grünes Trikot, dazu ein grünes Hemd, und das Haar hatte sie auch grün gefärbt. Ulli flüsterte, daß sie sich vom Rasen kaum abheben würde, und dann mußten wir vier Minuten lang lachen, genau so lange, wie das Lied dauerte. Jasmines Tanten und Onkel, die vor uns im Hof standen, warfen strafende Blicke in unsere Richtung, was alles noch lustiger machte. Jasmine bekam viel Applaus, als sie von der Bühne lief, und irgend ein Blödmann rief: „Da Capo!“
Das war natürlich mein Vater, Thomas Tedin. Tja, man hat es nicht immer ganz leicht.
Er stand mit den Händen in den Hosentaschen und einem Farbklecks auf der Backe da und freute sich. Ullis Mutter stand daneben und laberte. Sie hatte bestimmt einen ganzen Vortrag auf Lager, wie wir uns in Tunesien benehmen sollten und ähnliches, und daß Ulli für Halsentzündungen anfällig sei, und ob Halbpension nun wirklich ausreichend sei. Nur Frühstück und Abendessen? Ulli neigte nämlich auch leicht zum Verhungern.
Mein Vater sah nur zufrieden aus. Er hört nie hin, wenn Leute reden.
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