Viveca Lärn
Mimi und das Monster im Schrank
Saga
Am Anfang von einem Buch steht oft Vorwort.
Vorwörter kann man überspringen.
Meistens sind Vorwörter jedenfalls langweilig.
Meine Mama überspringt alle Vorwörter.
Mein Papa überspringt alle Vorwörter.
Meine Tante Anna überspringt alle Vorwörter.
Ihr Freund Albin liest alle Vorwörter.
Albin tut immer gern das Gegenteil von dem, was andere tun.
Aber auf der nächsten Seite kommt mein Vorwort.
Das darfst du nicht überspringen.
Denn sonst verstehst du mein Buch überhaupt nicht.
Viele Grüße
Mimi
Ich heiße Mimi. Ich wohne in Schweden. Ich bin fast sechs Jahre alt.
Ich habe keinen Hund und auch keinen kleinen Bruder.
Ich möchte gern ein bißchen größer sein.
Große Kinder haben es gut.
Die, die zehn oder elf Jahre alt sind.
Die brauchen keine Hosenträger.
Die haben eigenes Geld und Löcher in den Ohren.
Die dürfen im Verkehr radfahren.
Aber das Schönste: Sie haben Tagebücher.
Sie schreiben drei Sachen in ihre Tagebücher:
Geheimnisse. Wichtige Sachen. Ungerechte Sachen.
Viele haben ein Schloß an ihrem Tagebuch und tragen den Schlüssel an einem Band um den Hals.
Das weiß ich alles von einem Mädchen, das in einem anderen Eingang in unserem Haus wohnt. Das Mädchen heißt Lena. Sie hat schon lange ein Tagebuch.
An einem ganz gewöhnlichen Tag, als der Sommer fast zu Ende war, hat sie mir ein Tagebuch geschenkt. Ein rotes. Mit Schloß. Das war mein glücklichster Tag.
»So mußt du es machen«, sagte Lena. »Du schließt es nur auf, wenn du allein bist. Aber erst mußt du dich genau umgucken. Unter dem Bett und überall. Es macht nichts, daß du noch nicht schreiben kannst, denn du schreibst ja in deiner Geheimsprache. Jedesmal wenn du etwas Geheimes, Wichtiges oder Ungerechtes erlebt hast, schreibst du es auf.« Und da habe ich angefangen, Tagebuch zu schreiben. Es war am selben Tag, als ich in die Vorschule kam.
Wer einen Schlüssel zu meinem Tagebuch hat, kann meine Geheimsprache lesen.
Jetzt hast du den Schlüssel zu meinem Tagebuch.
Hier kannst du einige sehen, die in meinem Tagebuch vorkommen
Als ich heute morgen aufwachte, war es schrecklich neblig. Man sah fast gar nichts. Und ich dachte: Wie sollen wir bloß den Weg zur Vorschule finden in all diesem Nebel? Wenn wir uns nun verlaufen und statt in der Vorschule im Altersheim landen? Dann stehen wir da mit unseren Schultaschen und wissen nicht, was wir dort sollen, und die alten Leute wissen es auch nicht.
Aber Mama hat gleich gesagt, daß sich der Nebel auflöst, bevor wir losgehen. Dann sieht man alles klar und deutlich und findet den Weg zur Schule wie nichts.
Mit sechs Jahren müssen wir in Schweden alle zur Vorschule. Sonst gibt es Ärger. Aber das will man ja. In die Vorschule gehen. Ich werde im Oktober sechs.
Als Mama und ich losgingen, nahm ich meine karierte Schultasche mit, und die war ganz leer. Ich hatte Holzschuhe und Jeans an, und so was hatten die anderen Kinder auch an.
Bei der Vorschule wimmelte es nur so von Eltern und Kindern. Die standen alle da und guckten und guckten.
»Hallo«, sagte Mama, als wir herankamen.
»Pst«, machte ich, »sei bloß still!«
Dann durften wir reingehen.
Drinnen roch es sauber und nach Putzmitteln. Die Wände waren knallgelb, und die Türgriffe saßen schief. Alle Kinder und Eltern drängelten sich mächtig auf der Treppe, nur die nicht, die unten bleiben mußten. Das waren die, die zur unteren Gruppe gehören. Es waren fünfzehn Stück Kinder. Wir heißen obere Gruppe. Wir sind nämlich im ersten Stock, und wir sind am besten. Wir sind auch fünfzehn Stück, aber vielleicht kommt noch ein neuer Junge dazu.
Unsere Lehrerin hat schwarze Haare und lächelte. »Ich heiße Helga«, sagte sie, als wir uns in einem Kreis auf den Fußboden gesetzt hatten.
Die Mamas und Papas saßen hinter uns auf Stühlen und hörten zu. Da passierte es.
Ein großer Junge mit karierter Hose und Lockenhaaren beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr:
»Im schrank ist ein monster!«
Obwohl er warme Luft in mein Ohr pustete, fror ich, so unheimlich war das, was er da flüsterte. Der Junge hieß Arne. Dann durften wir wieder gehen.
»Das ging aber schnell«, sagte ich zu Mama, als sie mich zu meiner Tagesmama brachte. »Kaum ist man drinnen, schon muß man wieder raus.«
»Bald mußt du länger dableiben«, sagte Mama. »Sie fangen ganz langsam an. In zwei Wochen hast du jeden Tag zwei Stunden Unterricht.«
»Dann werd ich aber Hunger kriegen«, sagte ich.
»Ich geb dir Obst mit«, sagte Mama.
»Was für Obst?« fragte ich.
»Ach, irgendwas«, sagte Mama.
»Du sollst nicht immer irgendwas sagen!« sagte ich.
»Das kann ich nicht leiden. Ich will es genau wissen.«
So genau, wie Arne weiß, daß ein Monster im Schrank ist. Ich hab ihm angesehen, daß er es genau weiß.
Heute morgen hat es mächtig geregnet, und auf unserer Straße lagen vier große dicke Regenwürmer. Und ein kleiner. Mama sagte, ich sollte draußen warten. Sie mußte noch ihren Schlüssel suchen.
»Auf keinen Fall«, sagte ich. »Da liegen vier große eklige Regenwürmer auf der Straße. Und ein kleiner.«
»Regenwürmer sind lieb«, sagte Mama. »Sie sind gut für die Erde. Sie lockern die Erde auf und sorgen dafür, daß die Blumen wachsen.«
»Was machen sie dann auf unserer Straße?« fragte ich.
»Auf dem Gehweg wachsen doch keine Blumen!«
»Vielleicht baden sie«, sagte Mama.
»Geh du doch raus, wenn du sie so gern hast«, sagte ich.
Aber da hatte Mama ihre Schlüssel gefunden. Jetzt mußte sie nur noch ihren Kamm suchen. Sie lief hin und her. Zur Vorschule mußten wir rennen, und da stand Helga und wartete auf uns. Nur Mama und ich sollten kommen. Mama und Helga wollten über mich reden. Sie gingen also in Helgas Büro und redeten über mich. Da wollte ich lieber rausgehen, und das durfte ich. Helga hat eine Assistentin. Die hat kurze Haare und heißt Ingela.
Ingela zeigte mir verschiedene Sachen. Sie zeigte mir die Puppenecke und die Schubladen mit Autos und eine Orgel und Puzzlespiele und Bücher. Dann durfte ich mir ein Zeichen aussuchen. Ein Zeichen ist etwas, das man hierhin und dahin klebt. Wenn man zum Beispiel einen Fisch wählt, dann kriegt man ein Klebebild, auf dem ein Fisch ist. Den Fisch klebt man dann über den Haken, an den man immer seine Jacke hängen soll. Und dann klebt ein Fisch auf der Schublade, in der man seinen Kreidekasten und andere Sachen hat. Aber ich hab keinen Fisch gekriegt. Ich konnte zwischen Erdbeere und Frosch und Marienkäfer wählen. Ich dachte ein bißchen nach, und Ingela wartete, und dann nahm ich den Frosch. Frösche sind gut.
Dann gingen wir ins Büro. Dort hat Helga einen Schreibtisch. Mama knöpfte ihre Jacke zu und sah auf die Uhr und fing an, nach ihren Handschuhen und ihrem Schlüssel zu suchen. In dem Augenblick sah ich etwas Schreckliches. Über Helgas Kopf, fast oben an der Decke, war ein weißer Wandschrank mit einem Schlüssel. Die Tür stand ein bißchen offen, und da drinnen schimmerte es rosa.
Das musste das monster sein!
Ich machte die Augen zu.
»Ja, zu Anfang wird man müde von all dem Neuen«, sagte Helga.
»Wie, du bist müde?« fragte Mama.
Dann gingen wir zu meiner Tagesmama. Sie hat ein Baby, das ist ein Jahr alt und lernt gerade laufen.
Janna nennt Helga Herzchen, weil ihr Gesicht wie ein Herz aussieht. An der Stirn sieht sie aus wie Minni aus der »Mickymaus«, aber das Kinn ist ganz spitz, wie es bei einem Herz sein muß.
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