Jetzt wecke ich ihn! schluckte der Junge gefaßt. Doch kaum hatte er Kurs auf die Logisluke zu genommen, da fuhr er wieder zusammen. Wieder hatte er das entsetzliche Jammern gehört. Es ist bestimmt eine Heulboje! sagte er tapfer zu sich. Er war vor Erschöpfung ein wenig abgestumpft, zum Umfallen müde, auch hungrig und durstig und ganz durchfeuchtet von Nebel und Schweiß. Aber klang es denn nun nicht wirklich ganz deutlich wie ein weinerliches menschliches »Hölfe! Hölfe!«? Es kam aus Nord, wo es noch unsichtig war. Er schleppte sich ans Signal zurück, trommelte wie besessen darauf los, um den Schabernack zu übertönen. Und siehe da, als sein Arm erlahmte, war alles wieder still. Da lächelte er. Ein Gefühl von Triumph schlich ihn an, genau wie in der Schule, wenn der andere einen richtigen Blödsinn verzapft und er dann mit seiner Antwort ihn gänzlich zugedeckt hatte. Aber plötzlich wurden seine Augen stier wie Fischaugen, seine Füße versagten den Dienst. Auf Backbord, woher das Gejammer gekommen war, bewegte sich eine ungeheure Gestalt im Nebel und kam auf das Schiff zu und wandelte über das Wasser und sah dem Ertrunkenen ähnlich und kam näher, taumelnd, schlenkernd, gräßlich wie der Tod, den er einmal in einer Kasperbude auf dem Marner Markt gesehen. Da wußte er, was seine Mutter gemeint hatte, als sie weinte und sagte: »Op See, dor is de Dood!« Er wich zurück; kein Schrei brach aus seiner Kehle, seine Hacken stießen rücklings an die Bordschanze, er schlug hintüber, und obwohl das Wasser hier nur flach war, regte er kein Glied vor Entsetzen und ertrank, und die See deckte ihn zu.
Von der anderen Seite kam das Gespenst und schrumpfte zusammen und schlotterte über den platten Tertius-Sand, ein armer klappernder Knabe, derselbe, der den Tag vorher auf den glitschigen Planken ausgerutscht und über Bord gefallen war. Er hatte sich an einem treibenden Fischkorb gehalten. Die Strömung hatte ihn denselben Weg geführt wie den Kutter und bis Tertius-Sand, wo er Grund gefühlt hatte und aufs Trockene gelangt und hingesunken war. Dann hatte er sich gesammelt, war bis zur Bake gekrochen und hatte Kraft gefunden, die steilen Sprossen hinaufzuklettern und vom Wasser und Zwieback zu genießen dort in der Hütte für Schiffbrüchige, die der Sturmfluten und Brandung wegen so hoch im Gebälk hängt. Er war erhalten geblieben, hatte anderntags die Nebelsignale gehört, war dem Klange nachgetorkelt und wie ein Wunder wieder an seinen alten Kutter gekommen.
Als der Schiffer endlich ausgeschlafen hatte und an Deck klüste, saß da jener Junge, den er in vergangener Nacht als geblieben gemeldet hatte, und anfangs glaubte auch er an ein Gespenst. Dann aber machte er seinem Ingrimm Luft, er könne keine zwei Jungen an Bord gebrauchen, und das Geld für das Inserat sei gänzlich weggeschmissen. Als jedoch der zweite Junge nicht aufzufinden war, ernüchterte er sich einigermaßen, was aber nur von kurzer Dauer war, konnte ihm doch der Standort des Schiffes und der Verlust des Ankers nebst Kette nicht lange verbogen bleiben.
Er begann wieder zu toben, brach aber unvermittelt ab, da ein frostiger Schauer sein küstengehärtetes Herz überschlich. Der Hergang schien ihm jählings nebelhaft. Ihm war unheimlich. Er ging ins Logis und nahm einen Schluck. Und mit Unbehagen dachte er an das Gewimmer, das die Mutter des Schustersohnes nicht unterlassen würde, während die des Wiedergekehrten aus alter, leidgewohnter Seemannsfamilie stammte und ihren Schmerz stumm mit in die Kammer genommen hatte.
Gewiß, der Schusterjunge war nicht ungefällig gewesen. Auf See fängt jeder als Tollpatsch an. Aber der Graupenpamps lag dem Schiffer noch im Gedärm, und das verlorene Ankergeschirr war ein Schaden, daran lange zu knacken sein würde. Das dämpfte jede Rührseligkeit. Der Schiffer nahm die Kömflasche nochmals unter die Nase, und danach polterte er wieder auf Deck, und das Jackvoll, das dem andern zugedacht war, bezog nun der Wiederkehrer, und der ließ es geduldig über sich ergehen, weil es immerhin zu seiner Erwärmung beitrug, und weil das Leben besser ist als der Tod.
An der Dithmarscher Küste lebten zwei Vettern, die von Jugend auf einander ähnlich sahen und auch an Wildheit der Gebärde und der Lebensauffassung keiner dem anderen nachstanden. Beider Familienname war Leweko. Harm, der eine, als Erbe eines großen Hofes, wurde Landwirt, der andere, ohne Aussicht auf Grundbesitz, machte zur Not das Abitur und begann, in Kiel dies und das zu studieren. Als der Krieg ausbrach, meldete er sich zur Marine. Doch in den langen Jahren zwischen U-Boot- und Hafendienst gelangte er, trotz allen Wagemuts durch mancherlei Zügellosigkeiten den Vorgesetzen unbequem, nicht weiter als bis zum Obermaaten, spielte alsbald bei den Umsturzgeschichten eine Rolle, wurde fast, ob zu Gebühr oder nicht, von den eigenen Kameraden standrechtlich erschossen und kam, abgekühlt und nach Ruhe verlangend, in seinem Heimatorte wieder an.
Dort hatte er mit einiger Aussicht ein Mädchen sehr gern gehabt, die Tochter des Schulmeisters, sich auch öfter während des Feldzuges um sie gekümmert. Sein Vetter hingegen, sein Rivale auch in dieser Sache wie in manchen sonstigen Wettbewerben der einstigen Jugend, war schon länger wieder daheim; sein Draufgängertum hatte ihm bei der Linie bis zum Offizierspatent verholfen, so daß er mit Glück die einst Umstrittene für sich gewann; zumal man über den anderen, der unzweifelhaft vor Jahren die besseren Chancen gehabt hatte, allerhand der dunkeln Kieler Gerüchte selbst bis an diesen weltverlorenen Strand dringen hörte. Was Wunder, daß keiner von dem »roten Mariner« recht etwas wissen wollte. Selbst seine Eltern und Geschwister empfingen ihn voller Sorge, daß nun bald das Dorf von nichts als seinen angeblichen Untaten rede. Nur der alte Strandvogt war bereit, den guten Kern unter der zerlumpten Paradejacke zu erkennen. Seit je war ihm dieser unruhigere und empfindsamere Sproß der Lewekos lieber gewesen als dessen hochnäsig zielstrebiger Vetter, der sich schon als Deichgraf zu fühlen begann.
Der Heimgekehrte, dessen Neckname vordem Mussel gewesen war, weil er als ein vorzüglicher Muschelfischer gegolten hatte, besann sich auf die See hinterm Deich, lieh sich ein Boot und eine Möwenflinte bei dem gütigen Vogt und fuhr auf eine als unrentabel von der Domäne längst aufgegebene Schlickinsel weit draußen im Watt, wo die Tiden seit Urzeit Land wegschlürfen und Land ausspeien wie am zweiten Schöpfungstage. Dort hauste er in der während des Krieges verlassenen Schäferhütte, die auch kurz als Beobachtungsstation gedient hatte. Er schoß Seehunde und Wattvögel und begann mit den Fellen und Bälgen einen Tauschhandel nach Helgoland, das er fast alle vierzehn Tage, Sommer und Winter, in seinem unmöglichen und vielgeflickten Boote aufsuchte. Niemand störte ihn dabei. Eine Anzahl Legenden bildeten sich über den anwachsenden Luxus seiner Haushaltung, jedoch auch über die lebensgefährlichen Maßnahmen, die er zur Verteidigung seiner Schlickfestung ersonnen hatte, indem er angetriebene oder aufgefischte Minen in die Prielzugänge rund um die Insel verankert haben sollte.
Inzwischen fand die Hochzeit des Vetters statt, der das Hoferbe angetreten hatte. Die junge Frau sah am Hochzeitsmorgen ein ausgesucht schönes Seehundsfell auf der Hausschwelle liegen. Ihr Mann, der darüber zukam, wie sie es in einer Truhe verbergen wollte, meinte, Lunte wittern zu müssen, und ließ nicht nach, in der Folgezeit auf Schritt und Tritt zu sticheln und zu argwöhnen, zumal die junge Frau angab, erst am Trautage selbst durch den Vogt erfahren zu haben, daß Mussel Leweko noch in der Gegend sei, sie habe es aber weder damals noch jetzt glauben können. Die mißtrauischen Redensarten ihres Gatten, die schließlich, obwohl gänzlich grundlos und wohl gerade deswegen, in Grobheiten und sogar Handgreiflichkeiten ausarteten, weckten notgedrungen immer stärker die Erinnerung an jenen durch die Kieler Ereignisse Verrufenen, Erinnerung früher, längst vergessener Zärtlichkeiten, die auf dem trüben Grunde dieser Ehe mählich übergroß und verlockend aufzublühen begannen.
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