Den Abend klarte es auf, und der Kutter, der das Unglück gehabt hatte, setzte Segel und rutschte mit der Flut heim nach Friedrichskoog, und schon am andern Morgen stand es im Marner Blatt, das von dem Ertrunkenen, und darunter stand das Inserat des Fischers, daß er einen neuen Jungen suche. Der kam denn auch gegen Klock zehn an Bord mit seiner weinenden Mutter, und um elf bei günstiger Tide und prächtig hellem Wetter warf man die Leinen vom Hafendamm los und fuhr wieder davon, um das Geschäft nicht allzulange zu unterbrechen und um die Kosten wieder einzuholen.
Zu Mittag mußte der Junge Graupen kochen, die allgemein »Scheeben Wind« heißen. Er kochte sie dem Schiffer zu pampsig, und der prophezeite dem armen Bengel handgreiflich nichts Gutes für seine Seefahrt und Laufbahn. Pech klebt an Pech, und so hatten sie eben eine Kumme Kaffee zum Nachspülen genossen, da wurde es wieder diesig und bald so dick, daß sie ihre Pantoffeln an den Füßen nicht mehr sehen konnten und Anker werfen mußten. Der Schiffer fluchte, klopfte die Pfeife aus und haute sich in die Koje. Er hatte noch Schlaf zugute. Der Junge mußte oben bleiben. Weitere Mannschaft war ja nicht an Bord. Er hatte strenge Weisung, der Junge, seinen Schiffer nicht vor anständiger Sicht zu wecken, und hatte zweierlei zu tun: Erstens mußte er alle Minute mit einem alten Belegnagel an eine rostige Eisenplatte klopfen, die da frei am Backstag hing und einen durchdringenden Ton abgab. Das war das Warnungssignal für andere Boote, um bei dem Nebel einen Zusammenstoß zu vermeiden. Zweitens sollte er ab und an die Ankerkette einen Faden weiter ausstecken, um bei dem ablaufenden Wasser den Kutter im Strom zu halten. Er tat beides mit zitterndem Eifer. Er war nur ein schmächtiger Knabe, frisch von der Konfirmation, und hatte nicht Schuster werden wollen wie sein Vater, sondern Seemann. Er hatte immer von der hübschen blauen See geträumt mit Wogenkämmen weiß wie Milchschaum, weiß wie ungebärdige Schimmelhengste, darauf Rasmus reitete, der Nordseewind. Nie hatte er wie andere Knaben mit ihren Fischervätern auf See mitgedurft. Er hatte sich am Ausguck vom Vorland genügen lassen sollen, aber es hatte ihm nicht genügt. Nun war er denn ja auf See. Und nun war dieser alte hustige Drecknebel. Dahinter lag wahrscheinlich die Insel Trischen und ein bißchen weiter längs England und noch ein bißchen weiter Amerika. Dahin wollte er bei nächster Gelegenheit auskneifen und was werden, Hotelboy, Goldsucher, Ölfeldermillionär. Das Leben des Seemannes mit Graupenkochen, Ohrfeigen, Nebelsignalen und Ketteausstecken schien ihm nicht das, was er sich noch vor wenigen Stunden davon versprochen hatte. Anderen Leuten jedoch das Leder versohlen wie sein Vater, das allerdings war ihm auch von einem neugewonnenen und leicht bitteren Standpunkt aus nicht verlockender als vorher. Dann steckte er doch noch lieber fleißig von der ekligen, naß rostigen und fingerzerreibenden Kette aus. Gewiß, der Schiffer hatte ihn wegen der Graupen vermöbelt.
Das nächste Mal würde er die Mischung ’raushaben. Morgen nun sollte es Erbsen geben, grün, ungeschält mit Speck. Ihm wurde schwer ums Herz. Nun war wieder das Nebelgebimmel fällig. Und nun wieder die Kette. Es ging schon ganz gut.
Auf einmal war die Ankerkette fast zu Ende. Der Krampen, der ihr letztes Glied am Spill festhielt, war mächtig dünn geschliffen. Oho, der Junge sah es wohl. Er ließ den Stopper ins Zahnrad fallen, aber das Spill war zu flott in Gang, der eiserne Stopperzapfen prallte ab, flutsch, rauschte die Kette aus, der Krampen barst weg, als hätte der Teufel seinen Finger dran gewetzt, und die Kette schoß wie ein Katerschwanz durchs Gatt in den Nebel und ins Wasser und war weg. Es war geradezu, als habe jemand mit Gewalt sie hinabgerissen. Der Junge mußte plötzlich an den Ertrunkenen denken. Hatte der sich etwa wieder an Bord ziehen wollen, um ihn vom Platz zu stoßen? Ihm wurde gräsig. Er nahm sich zusammen. Längst mußte wieder eine Minute um sein. Dengelenge – beng – beng – beng! knallte er den Belegnagel gegen die Glockenplatte.
Der Kutter lag so schön still, deuchte ihm, was brauchte man einen Anker. Den würde man schon wiederkriegen, tief war es hier sicher nicht. Er pekte mit dem langen Haken ins Wasser, das man nicht sah, das man nur fühlen und hören konnte. Es war doch zu tief. Der Haken, im Nebel sich gleichsam auflösend wie eine Zuckerstange, erreichte keinen Grund. Was nun? Man hätte ins Boot müssen, aber dazu war jetzt keine Zeit wegen des Nebelsignals. Auch fürchtete er, bei weiteren Angelversuchen womöglich einen Leichnam herauszufischen. Den Schiffer zu wekken, wagte er nicht. Sein Gesicht brannte noch von den Maulschellen, und die Luft war ja ringsum noch immer dick wie ein Sack. Dengeleng – beng – beng!
Der Kutter aber dachte gar nicht daran stillzuliegen. Sachte, sachte schob er sich mit der starken Ebbströmung von dannen, an Trischen vorbei und durch das Falsche Tief, wie es dort heißt. Der Junge merkte nichts von der Fahrt. Wie eine grauverstaubte Käseglocke war die Welt über ihn gestülpt. Nach dem Kompaß zu sehen, dazu war er nicht beauftragt; er verstand auch noch nichts davon. Manchmal brachen Vögel durch den Dampf, erschreckten ihn, riefen schrill und verschwanden wie weiße Fäden in grauem Tuch. Auch sah er einen Augenzwink lang Masten und Rümpfe der ankernden Flotte; sie glitten vorbei, riesenhaft unter der Lupe des Nebels, glatter Spuk mit scheinbarem Kurs auf Friedrichskoog, wo er zu Hause war und es schön warm und gemütlich hätte haben können auf einem runden Schusterschemel. Danach vernahm er die Heulboje, die vor Buschsand liegt. Es klang grausig, wie jammernde Hilferufe. Er sagte sich tapfer, das könne der Ertrunkene unmöglich sein, vielleicht waren es Seehunde, vielleicht eine Heulboje. Daß es dergleichen gab, hatte er gehört. Und wenn es ein Mensch sei, helfen würde ihm doch keiner können in diesem verfluchten Nebel. Und wie ekelhaft dieser Nebel dunstete, richtig nach Verwesung.
Er hatte den Jungen, der tags vorher ertrunken war, gut gekannt. Sie waren aus derselben Schulklasse. Und der andere hatte gleich Seemann werden dürfen, er aber erst auf das Inserat hin. Der andere war ziemlich dickfellig in der Schule gewesen, oft hatte er über seine dummen Antworten gelacht. Vielleicht war es unrecht gewesen zu lachen. Aber nun war es zu spät zum Abbitten. Und warum auch? Wer etwas weiß, soll sich freuen, und wer dumm ist, muß sich Spott gefallen lassen. Das hatte der Lehrer gesagt. Und daß sich etwa einer noch im Tode rächen könne, das durfte sich ein vernünftiger Mensch nicht einbilden.
Solcherlei hübsche nüchterne Überlegungen, eines seebefahrenen Mannes würdig, wollten auf die Dauer jedoch nicht viel nützen. Er war ja noch so klein, der Junge auf dem umnebelten, heimtückisch treibenden Fischkutter, er war eben vierzehn. Die Heulboje jammerte nun achteraus. Es war wirklich grausig. Er stand nunmehr in Schweiß frierend da, klammerte sich ans Stag, halb tot vor Angst. Und der Minutenabstand wurde immer kürzer, und während er mit dem großen schwarzen runden Eisennagel auf die Signalplatte hämmerte, schluchzte er: Ich bitte dir ab! Ich bitte dir ab!
Inzwischen lief der Kutter mit einsetzender Flutwelle die Norderpiepen hinauf gen Büsum, geriet bei Tertius-Sand sachte auf Grund und blieb da sitzen. Der Junge im Nebel ahnte nichts davon. Die Heulboje lag nun weit weg, ihr Seufzen war verweht. Der Junge atmete auf. Er hat mir vergeben! sagte er und faltete die mageren Hände auf eine Minute Signalpause. Und da, wie ein himmlisches Zeichen sah er auf einmal die Sonne; sie stand schon tief und hing wie eine Blase Schmalz im Nordseequalm geradewegs an der glasig verschwimmenden Klüverspitze. Nun mochte kommen, was wollte; mochte der Schiffer ihm das Fell verbleuen, er wollte es freudig als Buße hinnehmen. Die Luft wurde immer dünner, das Wasser rispelte lebhafter, ein Hauch Brise tat sich auf, in Süd erblitzte ein Strich silberner See. Nur gen Norden lag der Dunst noch dick wie Milchglas.
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