Sie sieht ihn jetzt wieder ganz genau vor sich, nein, nicht den Moddetektiv, den Chris, wie er da vor ihr gestanden ist, etwas fahrig und ein bissl nervös, andauernd herumgezappelt ist er in seinem komischen Rolling-Stones-Anzug. Der war doch auf irgendwas drauf! Und später, wie sie wieder daheim war, hat sie noch eine ganze Weile über ihn nachdenken müssen, und sich über sich selbst gewundert, weil dieser Chris es geschafft hat, sich in ihren Gedanken einzunisten. Wo Männer mit Vollbart doch sonst gar nicht ihr Typ sind.
Und, daran erinnert sie sich noch ganz genau, dass das der Moment gewesen ist, wo der aus ihrer Liebe zum Moddetektiv geschmiedete Schutzpanzer den ersten haarfeinen Riss abbekommen hat. Trotzdem ist sie dem Moddetektiv weiterhin honett geblieben, und den Chris hat sie seither nicht mehr wiedergesehen. Bis zum heutigen Tag. Und jetzt fällt ihr die Kinderschultasche ein, von der die Frau Erika gemeint hat, dass die doch ganz sicher was wär’ für den feschen Herrn Chris, weil auf der auch so ein Rolling-Stones-Zungenmuster drauf ist wie auf dem todschicken Anzug, den der Chris an diesem Frühsommerabend angehabt hat. Worauf sie die Frau Erika angestachelt hat, die Schultasche unbedingt aus dem Lager zu holen, bevor sie frech grinsend die Papierhandlung verlassen und diesen Chris in seinem blöden Anzug stehen gelassen hat.
Wie sie dann das nächste Mal in die Papierhandlung gekommen ist, war die Schultasche immer noch dort. Der Herr Chris, so erzählte ihr die Frau Erika, hat sie zwar bezahlt, aber nicht warten können, bis sie den Kinderranzen im Lager aufgestöbert hat. Weshalb er gebeten hat, ihn der Birgit für ihn mitzugeben, wenn sie das nächste Mal ins Geschäft kommt. Das hat er natürlich nicht gemacht, weil ihm die Schultasche so gut gefallen hat und er sie unbedingt hat haben wollen, sondern weil er darauf spekuliert hat, dass die Birgit sich deswegen mit ihm in Verbindung setzen wird. Und seine Adresse hat er auf einen Zettel geschrieben, damit sie ihm dann die Schultasche zu Hause vorbeibringt – Frechheit! Aber auf dem Zettel ist gar keine Adresse draufgestanden, sondern nur irgendwas Unsinniges, ihr fällt beim besten Willen nicht mehr ein, was. Ist auch egal, sie hat den Zettel zerrissen, und damit ist das Thema Chris für sie erledigt gewesen.
Jetzt lässt sie der Gedanke nicht mehr los, und es wurmt sie. Was ist da bloß auf dem Zettel gestanden?? Irgendwas, das mit Romantik, aber auch mit einer Katastrophe zu tun hat … Herrschaft, es ist immer das Gleiche, gerade die blödesten Sachen merkt man sich doch für immer und ewig, aber wenn man einmal eine von diesen Unsinnigkeiten braucht, dann kommen sie einem auf Biegen und Brechen nicht mehr in den Sinn. Wurscht.
Und jetzt sitzt er da, dieser Chris, mit einem Schlauch in der Nase und im Rollstuhl unter dem alten Lindenbaum im Garten des Sanatoriums, bei dem sie sich ehrenamtlich beworben hat, und weiß wahrscheinlich nicht, wo oben und wo unten ist. Und die Seuche hat er sich überdies auch noch eingefangen. Armer Teufel.
Sie beugt sich zu ihm hinunter, schiebt sich – soweit es die blöde Plexiglasniesschutzkugel zulässt – in sein Blickfeld, legt ihm die Hand auf den Arm und versucht ihm in die Augen zu schauen. Und obwohl sich ihre Blicke treffen, schaut er sie dennoch nicht an, sondern nur durch sie hindurch.
Schöne Augen hat er schon, das ist ihr damals als allererstes aufgefallen. Ein Blau, so blau wie der atlantische – nein, wie der pazifische Ozean. Wo die jetzt wohl hinsehen …? Also setzt sie sich auf das Bankerl neben ihn, und fängt an ihm zu erzählen, wie sie sich damals vor drei Jahren in der Papierhandlung von der Frau Erika begegnet sind. Und dabei beobachtet sie ganz genau, ob er vielleicht auf irgendwas reagiert. Aber da ist kein Wimpern-, kein Finger-, kein Garnichtszucken. Deppat.
Wie ein aus Fernambukholz gefertigter, mit ungebleichten Schimmelhengsthaaren bespannter Goldbogen, der die Albinoschafdarmsaiten einer 1724er Ex-Szigeti Stradivari liebkost, strich, von der mit Altersflecken übersäten, dürren Hand nahezu schwerelos geführt, die diamantenbesetzte 18-Karat-Weißgoldschleiffläche der dem Hause Riche et Lieux entstammenden Bestgestelltennagelfeile über den Halbmond seines Ringfingers, um in hauchzart geführten Schwüngen mikroskopisch kleine Hornpartikelchen abzutragen, während er jene, von unglaublicher Dramatik getragenen, wenigen Augenblicke stiller Spannung zwischen Präludium und Fuge genoss, ehe das Thema in einzelnen Tönen zu erklingen begann, um dann mit sich selbst auf Stufen wachsender Komplexität geradezu unheimliche, erlesene Harmonien hervorzubringen. Wenn es auch schwierig für ihn sein mochte, es in Worte zu fassen, so bestand doch stets eine höchst subtile Beziehung zwischen den beiden, denn selbst wo Präludium und Fuge nicht das gleiche melodische Thema besaßen, so gab es doch immer eine unfassbare, abstrakte Eigenschaft, die sie so eng miteinander verknüpfte wie ein, er überlegte, ja, ein endloses, geflochtenes Band.
Präludien und Fugen gab es viele, und er kannte sie alle, und kaum etwas war für ihn so aufregend wie dieses flüchtige Zwischenspiel von Schweigen. Denn es war der Moment, in dem er versuchte, dem alten Bach auf die Schliche zu kommen. Was würde das Tempo der Fuge sein, Allegro oder Adagio, würde es 6/8 oder 4/4 sein, würde das Stück vier Stimmen haben, oder gar fünf, oder bloß drei …? Ein exquisiter Augenblick höchst erlesener Qualität, der –
KLACK!
Das scharfe, metallische Geräusch der Schließvorrichtung ließ Emerald Westminster III die Nagelfeile beiseitelegen und verärgert den schrumpeligen Kopf heben. Welch unmusikalisches Schweinsohr besaß die unerhörte Respektlosigkeit, ihn während der Nachmittagsruhe zu behelligen, die er, wie jeder hier im Hause zu wissen hatte, stets dazu verwandte, zu den Kontrapunkten und Kanonen des Präludiums samt Fuge in Es-Dur aufs Sorgfältigste seiner täglichen Maniküre nachzugehen?!
La Porcelaine de déjeuner war längst abgetragen, und zum Souper waren es noch etliche Stunden hin. Und nach einem Casse-Croûte hatte es ihn nicht verlangt – was sollte also die ganze Putain de merde?!? Ungeachtet dessen bestand die unumstößliche Vereinbarung, ihm jeglichen Besuch im Vorfeld per Telefon zu avisieren.
Unter einem entsetzlichen Kreischen, das dem empfindlich gewordenen Alten wie eine Säge durch Mark und Bein sowie hinab bis ins letzte Glied schnitt, schob sich nun die massive Stahltür auf, und im unerträglich grellen Widerschein der Flurbeleuchtung manifestierten sich die Umrisse einer Gestalt.
»Nicht so laut, nicht so laut, ich kann diesen Lärm unmöglich ertragen!«, stöhnte Westminster derweil mit schmerzverzerrtem Gesicht und schlug die Hände vor die geblendeten Augen.
»Hab dich nicht so, alte Vogelscheuche!«, gurgelte es ihm fettig vom Eingang entgegen.
Nanu?! Das tranige Timbre im klebrigen Klang der verschlurten Stimme schien Westminster nicht ganz unbekannt, verband er doch augenblicklich ausgesprochen Abträgliches mit ihm. Er ließ irritiert die Hände sinken und kniff zur Ansichtnahme misstrauisch die mausgrauen Äuglein zusammen. Konnte es denn die Möglichkeit sein? War der feiste Kerl, dessen zwischen Bulligkeit und Korpulenz angesiedelte Silhouette den Eingang verfinsterte, tatsächlich der beschissen blöde, immens inkompetente, über alle Maßen verhasste und doch eigentlich mit ein paar ausgesprochen gut gebauten Herren in einer nicht einmal sechs Quadratmeter großen Wohngemeinschaft auf Staatskosten lebenslang sitzen sollende Lieutenant Lou …
»… Tenant-Tanner, erraten«, vollendete der Eindringling Westminsters Gedankengang und ließ damit die Vorahnung des Alten, es mit einem wahrhaften Schweinsohr zu tun zu haben, zur grausamen Gewissheit werden, während sich mit abermaligem Kreischen die Tür im Rücken des ehemaligen Oberbullen schloss und er mit einem selbstgefälligen Grinsen nähertrat. Wie vom Tabernakel gestochen, fuhr Westminster empört von seinem Stuhl hoch, sank jedoch, auf halbem Wege von seinen Kräften im Stich gelassen, wieder zurück.
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