Arno Widmann - Szenen aus der frühen Corona-Periode

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Das Corona-Virus verändert seit dem ersten Ausbruch in bisher unbekannter Schnelligkeit und Vehemenz den Alltag in Deutschland, in Europa, in fast allen Ländern des Globus. Nur wie? Was macht das Virus mit Menschen, Gesellschaften, Staaten? Der Journalist Arno Widmann schildert in seinem Essay Szenen aus der frühen Corona-Periode. Reflexion als eine Art Domino: Die Verhältnisse sind im Fluss, niemand kann klare Erkenntnisse für sich in Anspruch nehmen, und die Überlegungen Widmanns bringen sich in eine Form, die dem gerecht wird – sie formieren sich, je nach Begebenheit, je nach Szene, wieder und wieder neu. Der Autor zieht sich zurück, schon aus Gehorsam, hört zu, beobachtet, eher von fern als aus der Nähe, er erzählt Szenen aus dem Leben in ungeheuerlicher Zeit und lässt so den Gedanken ihren Lauf.

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Arno Widmann

SZENEN AUS DER FRÜHEN

CORONA-PERIODE

Auszugehen ist in Zeiten des Coronavirus verboten, körperliche Kontakte sollen möglichst vermieden werden. Das erklärt die Regierung. Arno Widmann ist – schon aus Faulheit – entschlossen, gehorsam zu sein, legt sich aufs Sofa und denkt sich Geschichten aus. Zehn Tage lang .

1Lisa ist alt geworden. Sie hört ihren Atem, wenn sie die Treppe hochgeht. Noch schlimmer ist, dass sie sich dabei ertappt, wie sie mit sich selbst redet. Vor ein paar Tagen stand sie – das Coronavirus war noch in Wuhan – in einer Umkleidekabine in der Galeria Kaufhof am Alexanderplatz, sah in den Spiegel und dachte: Dafür bist du zu alt. Dann aber kaufte sie, nur um sich zu widersprechen, Anfang März das bunte Sommerkleid, das sie wohl nie wieder anziehen würde.

2Thomas sitzt in einem Sessel am Fenster. Er ist eingeschlafen. Er wacht auf mit dem Gedanken: In dieser sich hinziehenden Gegenwart, in der die Menschen einander belauern, jeder darauf achtet, niemandem zu nahe zu kommen und gerade dadurch das Verlangen nach Nähe in jedem von uns immer wieder aufsteigt, entstehen neue Formen der Nähe. Auch wer wie Thomas in der Liebe bisher ganz darauf angewiesen war, zu berühren und berührt zu werden, versucht es jetzt mit der Sprache. Die Menschen finden Zeit für Zärtlichkeiten, die sie sonst nicht einmal als solche betrachtet hätten. Corona ist die Auferstehung der Sprache.

3Silvia erzählt, dass sie, als sie den schalldichten Raum in der Kufsteiner Straße betrat, sie nicht etwa nichts hörte, dass sie vielmehr überwältigt wurde von zwei heftigen Klängen: einem sehr hohen und einem sehr tiefen. Der hohe, habe man ihr erklärt, sei eine Hervorbringung ihres ruhelosen, nimmermüden Nervensystems und der tiefe sei nichts anderes als das den Körper Schlag für Schlag durchströmende Blut. Jetzt ist sie viel allein und ertappt sich dabei, auch zu Hause die beiden Klänge zu hören. Sie hat Angst.

4Inge sieht im Fernsehen die leeren Straßen Roms. Kaum jemand ist unterwegs. Der Platz vor dem Mailänder Dom ist leer. Bilder wie aus einem Albtraum. Vor Jahrzehnten war viel die Rede gewesen von einer Bombe, die alle Menschen umbringen würde, ohne auch nur einer einzigen Mauer ein Leids zu tun. Italien sieht aus, als sei hier dieses Massenvernichtungsmittel erstmals zum Einsatz gekommen. Inge erinnert sich, dass ihr Vater ihr einmal erzählt hatte, der Erfinder habe kurz vor seinem Tod erklärt, die Neutronenbombe sei die einzige sinnvolle Atomwaffe, denn die Welt bleibe auch nach dem Krieg noch intakt.

5Lisa ist aufgeregt. Ihre Rommérunde hat sich entschlossen zu pausieren. „Morgen und übermorgen. Dann ist Wochenende. Dann sehen wir weiter.“ Sie hat ihre Tochter angerufen, um ihr das zu erzählen. Die ist sehr verblüfft, dass ihre Mutter sich meldet. Die zieht es nämlich vor, angerufen zu werden und sich dann darüber zu beschweren, dass sie nicht angerufen wird. „Wir haben nach dem Spiel heute uns auch keine Abschiedsküsschen mehr gegeben und beschlossen, erst einmal Pause zu machen.“ „Aber ihr seid doch nur zu viert!“ „Die Kanzlerin hat gesagt, wir sollten unsere sozialen Kontakte reduzieren. Und meine sind nun mal Erna, Gisela und Käthe. Wir wissen schon, was wir tun.“ Lisa und ihre Nachbarinnen bewohnen alle über achtzigjährig die Häuser, in denen sie ihre Kinder großzogen. Sie haben ihre Ehemänner – Erna und Käthe auch mehrere – begraben. Sie sind fit, und darauf sind sie stolz.

6Inge und Helmut leben seit 13 Jahren zusammen. Sie haben drei Kinder. Vor einem Jahr traf Inge wieder ihren Exfreund Philip. Er ist auch verheiratet, betreibt, wie Inge sich ausdrückt, ebenfalls Brutpflege. Philip lebt in Wien. Sie sehen einander nur einmal im Monat. Desto heftiger reagieren sie aufeinander. Inge wollte Helmut von Philip erzählen, tat es aber nicht. „Jetzt lebe ich mit Helmut in Quarantäne“, erklärt sie ihrer Freundin Julia. Die lacht nur. Inge ereifert sich: „Das Schlimmste am Coronavirus ist, dass wir zurückgeworfen werden auf das Leben, vor dem schon unsere Eltern geflohen waren: die Kleinfamilie, den Kult des Zuhauses.“

7Anne und Klaus sitzen seit über einer Stunde auf mitgebrachten Stühlchen vor dem Bismarckdenkmal im Tiergarten. Sie sind tief in den siebzig, gehören also der Hochrisikogruppe an. Solange sie hier sitzen, ist niemand vorbeigekommen. Sie waren hierher gegangen, weil sie das Denkmal mögen. Nicht, weil sie es schön, sondern weil sie es pompös, also verlogen finden. Die Märzsonne wärmt sie ein wenig, aber Anne wird es jetzt zu kühl. Klaus umarmt sie. Anne hat das Gefühl, er macht es, um sich und nicht etwa um sie zu wärmen. Darum wehrt sie ihn ab. „Ich soll das Coronavirus haben! Bist du verrückt!“ Klaus ist empört. Anne lacht, umarmt und küsst ihn.

8Inge missfällt, dass es in der Virologie immer einen Schuldigen gibt. Das Virus ist immer von jemandem zu jemandem übergegangen. Am Anfang ist es ein Äffchen, ein Vogel, eine Fledermaus und jemand, der dem Tier zu nahe kommt und dann jemandem, ohne sich gründlich die Hände zu waschen, die Hand gibt. So geht es, Kontakte multiplizierend, immer schneller, immer weiter. Inge ist Soziologin. Die Virologie, das stößt ihr auf, kommt ohne etwas so Übergreifendes wie Gesellschaft aus. Für sie gibt es nur eine Kette von Individuen. Man sieht jetzt zwar Wagen durch die Städte fahren, die irgendeine Flüssigkeit versprühen, die das Virus bekämpfen soll. Aber jeder weiß: Das bringt gar nichts. Kein einziges Virus wird dadurch gekillt. Das ist Show wie das Getanze der Cheerleader vor einem Spiel. Beim Virus geht alles hübsch nacheinander: Schlag auf Schlag. Bis es in einem ist, bis zum Touch Down.

9Alex sieht im Fernsehen einen Ökonomen, der erklärt, wir sollten dem Coronavirus dankbar sein. Man sehe doch, wozu ein Staat, wenn er nur wolle, alles in der Lage sei. „Mit einem Schlag können Bürger beobachtet, überwacht und in ihre Wohnungen eingesperrt werden. Die lebensgefährliche, so heißt es, Krankheit Covid-19 hebelt mal kurz die Grundrechte aus, legt die Wirtschaft lahm. Das Virus klärt uns auf: Man kann sehr wohl eine Politik gegen die Märkte machen. Ich behaupte: Mehr noch als Corona bedroht unsere Gesellschaft die wachsende Ungleichheit. Gegen die sollten wir ebenfalls vorgehen. Man wirft mir Radikalismus vor. Ich wäre schon froh, wir würden die Reichen so besteuern wie Helmut Kohl es tat. Meine Parole ist: Demokratie wagen: zurück zu Kohl.“ Noch ein Punkt blieb Alex in Erinnerung: Das Coronavirus stoße auf solchen Widerstand, nicht weil es Menschen töte, das habe noch nie irgendjemanden gestört, sondern weil es ein großer Gleichmacher sei. Seit Jahrzehnten werde überall auf der Welt daran heftig gearbeitet, einen kleinen, einen winzigen Teil der Bevölkerung vor den „Wechselfällen des Lebens“ zu schützen. „Aber im Augenblick hilft auch ein Milliardenvermögen nicht gegen SARS-CoV-2.“

10Inge erzählt, Christoph habe ihr erzählt, seine Frau habe ihm erzählt – so lebt man heute aus dritter Hand –, beim Einkaufen in der Metro auf der Buckower Chaussee habe sie beobachtet, wie ein Mann an den Einkaufswagen einer Frau gegangen sei, ihr erklärt habe, sie habe fünf Reinigungscremes, jetzt gebe es keine mehr, er nehme sich darum eine von ihr und – zugegriffen habe. Die Frau rannte zur Kasse. „Bald haben wir Krieg!“

11Christoph liest in der Zeitung, Südkoreas Haupthafen Busan habe profitiert von der Schließung der chinesischen Häfen. Allerdings waren aus der Stadt schon Ende Februar zweiundzwanzig Corona-Infektionen gemeldet worden. Niemand weiß, wie viele es heute sind. Der Hafen wird jedenfalls nicht geschlossen. Die Regierung stellt die Bewegungsprofile aller 8000 im ganzen Land Infizierten ins Netz. Sie sind anonymisiert, aber für Leute, die sie kennen – Ehefrauen zum Beispiel – leicht identifizierbar. Gegen diesen Verstoß gegen die Privatsphäre wird geklagt. Gerichte müssen jetzt Sicherheit gegen Bürgerrechte abwägen. Christoph ist Rechtsanwalt und überlegt, ob seine Kanzlei aus dieser Nachricht nicht auch hier in Berlin ein Geschäft machen könnte.

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