Das Geld aus dem Leinenhandel trug auch zum rasanten Wachstum Dublins während der nun beginnenden goldenen georgianischen Zeit der Stadt bei. In den massiven Reihenhäusern mit ihren grazilen Bogenfenstern siedelten sich bald die erfolgreichen Kaufleute der Stadt an. Straße um Straße und Platz um Platz entstanden neu im aufstrebenden Viertel um Temple Bar und auf der anderen Seite der Liffey nahe Oxmanstown Green. Diese Häuser wurden von protestantischen Familien bewohnt, die es sich im Gegensatz zu ihren katholischen Pendants leisten konnten, in Dublins Luxusgütern zu schwelgen. Ihre Häuser waren nicht nur mit den feinsten Tüchern gut ausgestattet, sondern auch mit all den anderen Gütern, die im 18. Jahrhundert als Ausweis des Wohlstands galten: edle Möbel aus dunklem Holz, Porzellan und Teppiche aus fremden Ländern, silbernes Teegeschirr und Porträts streng blickender Herren und Damen. Zumindest einen Teil seiner Jugend wird Sam Derrick in solch komfortablen Verhältnissen verbracht haben.
Wann und unter welchen Umständen Mrs. Creaghs Neffe in ihren Haushalt eintrat, verrät dieser uns nicht. Welche Geschichte auch immer dahintersteckte – von Not, Unehelichkeit, frühem Tod? –, Sam war jedenfalls dazu ausersehen worden, das beträchtliche Vermögen seiner Tante zu erben: einen Schatz, der sozusagen aus Leinen gesponnen war. Die Tuchhändlermühen ihres Ehemanns hatten ihm einen ansehnlichen Gewinn eingebracht, und auch wenn die genaue Höhe des Betrags, den sie ihrem Neffen zu vermachen beabsichtigte, nirgendwo in Sams Korrespondenz erwähnt wird, muss er doch stets von einem beträchtlichen Sümmchen ausgegangen sein. Solange seine Tante lebte, konnte Derrick zudem auf ihre Großzügigkeit setzen. Seine Lebenshaltungs- und Erziehungskosten gingen auf ihre Rechnung, und nicht minder die Ausgaben für seine prestigeträchtige Tuchhändlerlehre. Wenngleich Sam darauf bauen konnte, ein Erbe anzutreten, erwartete man von ihm, wie von den meisten Knaben aus dem erfolgreichen Kaufmannsstand und ebenso von den jüngeren Söhnen des niederen Adels, doch auch, einen angemessenen Beruf zu erlernen. In der Regel waren die künftigen Karrieren dieser jungen Männer von vornherein festgelegt und nicht verhandelbar. Akzeptable Optionen boten einzig die sehr geschätzten Laufbahnen im Rechtswesen, in Klerus und Militär sowie – für die Kinder der Mittelklasse – in den höchsten Etagen der Geschäftswelt.
Im Irland des 18. Jahrhunderts gehörte die Tuchhändlerausbildung zu den teureren Lehrprogrammen für junge Männer. Ein Kaufmann oder Handwerksmeister erwartete von der Familie eine gewisse finanzielle Entschädigung dafür, dass er ihren Jungen in sein Haus aufnahm, ihn fütterte und tränkte, seine pubertären Eskapaden ertrug und ihm ein Handwerk beibrachte. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte Daniel Defoe vom erpresserischen Charakter der Lehrverträge der Londoner Handwerksmeister geschrieben und festgehalten, dass es »gang und gäbe« sei, »einem Orienthändler für einen Lehrling tausend Pfund zu geben, anderen Kaufleuten vierhundert bis sechshundert Pfund, Geschäftsinhabern und Großhändlern, vornehmlich Tuch- und Leinenhändlern, zwischen zwei- und dreihundert Pfund, und so fort, stets dem jeweiligen Handwerk entsprechend«. In Dublin dürfte das für eine Lehre bei einem Tuchhändler zu zahlende Draufgeld allerdings einen der vorderen Plätze belegt haben. Nach damaligen Maßstäben waren das enorme Summen, die das Jahreseinkommen der meisten Mittelstandsfamilien überstiegen, doch waren sie auch der Schlüssel zu einem gesicherten Einkommen und dem entsprechenden gesellschaftlichen Ansehen, das mit der Zeit daraus resultieren sollte.
Mrs. Creagh hatte auch dafür Sorge getragen, dass ihr Neffe die dem Erben eines Kaufmannsvermögens gemäße Schulbildung erhielt. Eine humanistische Bildung war im 18. Jahrhundert die Visitenkarte eines jeden Mannes, der sich als Gentleman verstand. Wer aus den Werken von Plinius und Vergil zitieren, über die Bedeutung von Sokrates diskutieren und auf Latein mit Beleidigungen um sich werfen konnte, fand gleich viel leichter Zugang zu den Salons der gesellschaftlich Höherstehenden. Als Junge wurde Sam sicherlich auf eine angesehene Lateinschule geschickt und dem Unterricht eines Geistlichen anvertraut, wie es in der Dubliner Mittelschicht übliche Praxis war. Möglich, dass Sam gemeinsam mit seinen lebenslangen Freunden, den zukünftigen Schauspielern Francis Gentleman und Henry Mossop, die Butler’s School in der Digges Street besucht hat, um sich dort in lateinische Deklinationen und griechische Philosophie zu versenken. Auch Französisch spielte in seiner Erziehung eine bedeutende Rolle; wollte Derrick ganz allgemein in der großen Welt Erfolg haben, war es für ihn unerlässlich, die Sprache der Diplomatie und des feinen Mannes zu beherrschen. Der Unterricht in diesen Fächern wird den Kernbestand seiner Bildungsbestrebungen ausgemacht haben, hinzu kamen das Studium von Mathematik, Geografie, Religion und Geschichte sowie der eine oder andere Ausflug in die Naturwissenschaften und vielleicht Streiflichter auf einige der bedeutenderen Werke der Literatur. Doch ungeachtet der Freude, die ihm seine Stunden mit Shakespeare und Milton, lateinischen Dichtern und französischen Philosophen bereitet haben mögen, lag seine zukünftige Bestimmung nicht in der müßigen Kontemplation, die ein den Adligen und den außergewöhnlich Reichen vorbehaltenes Privileg war.
Schon in diesen frühen Jahren, als es ihn so sehr zur Dichtung drängte, muss Sam klargeworden sein, dass er keine Tuchhändlerseele im Leib hatte. Gleichzeitig war sein Platz in der Gesellschaft festgelegt; daran gab es für ihn nichts zu rütteln. Was sich Mrs. Creagh von ihm erwartete, hatte sie stets klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Doch mochte er sich seiner vorbestimmten Profession auch noch so eifrig widmen, ein irrlichternder Trieb in seinem Innern stemmte sich dagegen. Sam konnte und wollte seine Ambitionen nicht zusammen mit seinen Büchern im Regal verstauben lassen. Während er doch als Lehrbursche rackern sollte, widmete er sich lieber weiterhin der Lektüre von Rousseau und John Donne, und in den eigentlich dem Schlaf vorbehaltenen Stunden füllten sich im Schein seiner Kerzenstummel stets neue Seiten mit gekritzelten Versen. Auf diese Weise sammelten sich über die Jahre hinweg immer mehr Gedichte an, so dass Derrick mit zwanzig bereits den Grundstock einer anzustrebenden Publikation beisammen hatte. Gut möglich, dass seine Tante nie erfahren hat, wie weit Sams Interesse am Schreiben tatsächlich ging. Doch während die Reimkunst für die Klasse der blaublütigen Grundbesitzer als eine durchaus löbliche Beschäftigung galt, konnte sie das berufliche Fortkommen eines Handelsmanns nur bremsen. Freilich sollte es für Sam auch noch ganz andere Ablenkungen geben, gegenüber denen das Dichten verblasste.
Zieht man in Betracht, was Spötter, die sogenannten »Wits«, eines Tages über Sams erregbares Temperament zu schreiben wissen sollten, wäre es überraschend, hätte er seiner Tante nicht irgendwann einmal zu ernsthaften Bedenken Anlass gegeben – schließlich hat er sein Leben lang keine der charakteristischen Merkmale eines von souveräner Besonnenheit geleiteten guten Geschäftsmanns erkennen lassen. Er war leichtsinnig, leidenschaftlich und bisweilen zutiefst respektlos. Kann man einen Menschen nach seinem Umgang beurteilen, so ist zu bemerken, dass sich Sam bereits in frühen Jahren zu solchen Leuten hingezogen fühlte, die, wie er selbst, früher oder später ihren anständigen Broterwerb gegen eine vergleichsweise tadelnswerte Lebensart eintauschen sollten. Francis Gentleman, der einige Jahre jünger war als Derrick und sich genauso leidenschaftlich für Literatur und Theater begeisterte, sollte der engste Kamerad seiner Jugend werden. Enoch Markham, ein anderer Freund und zum Kleriker bestimmt, zeigte schon in Jugendjahren eine Neigung zu unbekümmerten Liebeleien. Genau wie Sam entschieden sich diese jungen Männer, in ihrem Leben mehr der Stimme ihres Herzens als dem Diktat der Vernunft zu folgen, zogen der Sparsamkeit und dem Maßhalten die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung vor; ein Credo, das nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihre finanziellen Verhältnisse bestimmen sollte. Es hat den Anschein, dass sich Sam nicht sonderlich für die Etikette und die Schablonen interessierte, die ihm das Leben vorlegte, was vielleicht erklärt, warum ihn so viele als grob und unverschämt empfanden. In seinem Todesjahr sollte ein namenloser Spaßvogel eine Reihe der erinnerungswürdigeren Perlen frevlerischer Weisheit aus seinem Munde zusammenstellen. Derrick’s Jest; or the Wit’s Chronicle bleibt eine der wenigen der Welt bis heute erhalten gebliebenen Hinterlassenschaften Sam Derricks – eines Mannes, der bis an sein Ende ein stark trinkender Charmeur auf der Hut vorm Gerichtsvollzieher war, der seine Gesellschaft je nach Laune entzückte oder beleidigte. Wie viel von dieser Seite seiner Persönlichkeit er bereits zu erkennen gab, als er noch unter der Obhut seiner Tante lebte, werden wir wohl nie erfahren, allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass seine Pubertät ohne Zwischenfälle vorüberging. Wie auch immer – letztendlich würde Mrs. Creagh wohl zu der Überzeugung gelangt sein, dass an seiner sittlichen Verkommenheit der schädliche Einfluss seiner lasterhaften Freunde schuld war. Ihren anklagenden Zeigefinger richtete sie dann aber weniger auf Sams Literatenbekanntschaften, als auf jene, die in einer viel niedrigeren Sphäre zu Hause waren: der des Theaters.
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