1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Verführungskraft der Bühne mit ihrem schönen Schein und ihrem Feuer der Leidenschaft in ihren Bann ziehen musste, und außerhalb Londons hätte es für ihn gar keinen besseren Ort als Dublin geben können, um den Kitzel einer Theateraufführung zu erleben. Jeden Herbst und jeden Winter stachen von Liverpool oder Holyhead Postschiffe gen Irland in See, die mit einer ganz besonderen Fracht beladen waren: Ihr Rumpf war gefüllt mit Unterhaltung für eine ganze Saison, von Kostümen, Kulissen und Theatermaschinerie bis hin zu Akrobaten und Schauspielern. Dublins Bildungselite, Männer und Frauen wie Mary Delany und George Faulkner, gehörten zu den vielen, die ihre Ankunft sehnsüchtig erwarteten – eine kulturell lebenswichtige Frischblutzufuhr aus dem künstlerisch so aufregenden London. Zum großen Glück der irischen Theaterenthusiasten griffen sich die Dubliner Bühnen allein die besonders erfolggekrönten Londoner Produktionen heraus. Während das Publikum der italienischen Oper gegenüber skeptisch blieb, ergötzte man sich an Inszenierungen von John Gays The Beggar’s Opera , an den Stücken von Congreve und Vanbrugh und am inbrünstigsten an Wiederaufnahmen der Dramen Shakespeares. Zum großen Verdruss der einheimischen Talente jedoch wurden keine irischen Stücke gespielt, was die Ambitionierteren unter ihnen zwang, in London ihr Glück zu suchen.
Während der Winterspielzeit drängelte sich die gesamte Gesellschaft Dublins, ob nun ehrenwert oder nicht, in den schwach beleuchteten und schlecht gelüfteten Schauspielhäusern in der Smock Alley und der Rainsford Street zusammen. Im 18. Jahrhundert gab es gar keine bessere Unterhaltung als einen Abend im Theater, nicht nur der Ereignisse auf der Bühne, sondern des ganzen Spektakels wegen, das sich ringsum entfaltete. Groß angesagte Theaterstücke wie David Garricks Miss in Her Teens , George Farquhars Der Werbeoffizier oder Richard III . mit berühmten Namen wie Garrick, Peg Woffington und Charles Macklin in den Hauptrollen waren Abend für Abend wahre Kassenmagneten. Die Theatermeister bedienten sich der technisch fortschrittlichsten Bühnenbilder und Spezialeffekte, ließen Schauspieler aus Falltüren auftauchen, Stürme über die Bühne fegen und das Publikum in Ausrufe der Verwunderung ausbrechen. Die Schauspielhäuser warteten mit einem scheinbar endlosen Reigen von Darbietungen auf, darunter Komödien und Tragödien, Gesang, Tanz, Akrobaten, Feuerschlucker und Zauberer; ein buntes Programm über den ganzen Abend hinweg, von halb sieben bis gegen Mitternacht.
Doch die Vorgänge auf der Bühne bildeten nur einen Teil des Theatererlebnisses. Das Theater des frühen 18. Jahrhunderts war mehr ein Zirkus als ein Tempel des gebildeten Kulturbetriebs. Den ganzen Abend über tobten regelrechte Schlachten zwischen Schauspielern und Zuschauern, und Zwischenrufe und Gejohle erfüllten das Parkett, das bereitwillige Auffangbecken für trunkene Männer. In der Menge machten Huren und Orangenverkäuferinnen ihre Runden, boten Erquickungen für Gaumen und Lenden feil. Stand der Abend unter einem schlechten Stern, konnte dieses brisante Gemisch aus Alkohol, Rauflust und Sinnengier ohne Vorwarnung explodieren. Und das bisweilen mit verheerenden Folgen, wenn das Publikum zum zerstörungswütigen Mob wurde, der über das vergoldete Interieur des Theaters herfiel. Ging es einmal weniger gefährlich zu, bot so ein Abend im Theaterhaus stets ein anregendes Erlebnis; und selbst das Risiko solcher Fährnisse vermochte die feine Gesellschaft doch nie von seinen Türen fernzuhalten. Solange sie nur das Parterre mieden, wo man schnell mal bespuckt oder bepinkelt wurde, konnten vornehme Leute die Ereignisse des Abends aus ihren vor Störungen gefeiten Logen genießen. Auch der handeltreibende Stand war sorgsam bedacht, Distanz zu halten, und bevorzugte die unteren und mittleren Ränge.
Wohin man auch blickte, gab es etwas zu sehen oder jemanden zu beobachten, was den Theaterabend zu einer willkommenen Gelegenheit für Gespräche, Klatsch und Tändelei machte. Gegenüber dem eigentlichen Anlass der gesellschaftlichen Begegnung waren die Vorgänge auf der Bühne für viele reine Nebensache. Vom Raum unter den wachstropfenden Kronleuchtern erhob sich ein ständiges Getöse, und die Schauspieler mussten sich alle Mühe geben, gegen das kreischende Gelächter der Betrunkenen, gegen Schreie, Spottrufe, Husten und die ständige Unruhe herein- und hinausströmender Theaterbesucher anzuspielen. Behinderungen durch Zuschauer, die bis 1747 sogar während der Aufführungen auf der Bühne stehen durften, trugen ihren Teil zum chaotischen Gesamteindruck bei. Kein hehrer Glanz umgab das Theater. In all dem Lärm und Spektakel herrschte eine karnevaleske Atmosphäre der Ungezwungenheit, und das bunte Publikum aus geschminkten Frauen und sich zügellos gebarenden Männern machte den kunstreich ersonnenen Geschichten von Liebe, Trug und Tapferkeit, die oben auf der Bühne gespielt wurden, mächtig Konkurrenz. In seinen Lehrlingsjahren wird Derrick jede sich bietende Gelegenheit zum Theaterbesuch genutzt haben. Dass er die nötigen Pennys für einen Sitzplatz mühsam zusammenkratzen und sich womöglich allen Verboten seines Lehrherrn zum Trotz davonstehlen musste, hat dessen Reiz sicher nur noch vergrößert. Sowohl im Parkett als auch hinter der Bühne wird er dann so manche der liederlicheren Gestalten aus seinem Bekanntenkreis, nebst deren Theaterbekanntschaften, getroffen haben. Für einen jungen Lehrburschen muss deren unbekümmertes, von scheinbar endlosem Gelächter erfülltes Leben mit seiner lockeren Sexualmoral höchst verlockend gewesen sein. Und vor allem bot sich ihm hier eine Gelegenheit zum Plausch mit Leuten, die seine Liebe zur Sprache und zur Dichtung teilten.
Angesichts all der unzähligen Ablenkungen und Versuchungen erstaunt es geradezu, dass Sam seine Lehrjahre erfolgreich zu Ende brachte. Gut möglich, dass die Furcht vor den Folgen eines etwaigen Versagens der einzige hierzu nötige Antrieb war. Vermutlich betrachtete Sam seine Beschäftigung als Mittel und Weg, um seine höheren Ziele zu erreichen. Bei aller Tristesse eines um Tuchhandel und Tuchproduktion kreisenden Lebens bot das Tuchhändlergewerbe doch immerhin den Vorzug häufiger Geschäftsreisen nach London und konnte ihm so als ein ideales Vehikel dienen, um bei potenziellen Mäzenen außerhalb Irlands mit seinen Dichtungen hausieren zu gehen. Gegenüber den doch eher bescheidenen Dimensionen des Dubliner Druck- und Verlagswesens eröffnete die Themsestadt viel weitere Perspektiven. Im 18. Jahrhundert waren alle Formen künstlerischen Schaffens auf Gönnerschaft und Mäzenatentum angewiesen, und eine so bedeutungsvolle finanzielle Unterstützung stellte stets eine ganz besondere Huld dar, die dem Künstler von den einflussreichsten Größen der Gesellschaft erwiesen wurde. Auch wenn Irland gleichfalls seine begüterten Aristokraten und wohlbeleibten Kaufleute mit gesellschaftlichem Aufstiegsdrang hatte, war dieser Menschenschlag doch in England und vor allem in London in viel höherer Dichte vertreten. Die geschäftige Kapitale der englischen Sprache bot da einen Reichtum an Gelegenheiten, mit dem Dublin einfach nicht Schritt halten konnte. Sams Freund und Mentor George Faulkner wird ihm diesen Punkt sicher mehr als nur einmal eingeschärft haben.
Da die literarisch interessierte Gesellschaft Dublins mehr oder weniger ein geschlossener Kreis war, könnte Sams Bekanntschaft mit George Faulkner bereits in seinen Schuljahren über die Empfehlung seiner Lehrer geknüpft worden sein. Obgleich fünfundzwanzig Jahre älter, empfand der Verleger doch eine große Zuneigung zu Derrick, und in der Hoffnung, seine Karriere befördern zu können, nahm er den jungen Mann unter seine Fittiche. Faulkner war nicht allein mit dem schätzenswerten Jonathan Swift, sondern auch mit Alexander Pope, Samuel Johnson und Lord Chesterfield befreundet – durchaus ein nützlicher Name also, mit dem man in den Londoner Zirkeln punkten konnte. Zweifellos waren es Faulkners Empfehlungsschreiben, die die wenigen wirklich wichtigen Türen zu Derricks literarischer Zukunft in London öffneten. Alle übrigen rannte Sam selbst ein.
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